Medical Tribune
12. Apr. 2022Ernüchternder Zucker

Diabetes geht häufig mit Depressionen einher

Bei etwa 20 Prozent aller Kinder und Erwachsenen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes liegt eine depressive Symptomatik vor. Diese Kombination ist besonders ungünstig, und geht sogar mit einer erhöhten Selbstmordrate einher. Eine Expertin empfiehlt daher, Menschen mit Diabetes auf Depressionen zu screenen.

Diabetes und Depressionen gemeinsam erhöhen sogar die Selbstmordrate wesentlich
iStock/Nicholas Free

Depression ist nicht gleich Depression. "Der Begriff umfasst ein sehr heterogenes Störungsbild, das wir sehr beschreibend diagnostizieren", so Prof. Dr. Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover (1). So umfasst der Begriff selbstlimitierende Zustandsbilder wie Trauer oder Anpassungsstörungen, Dysthymie bis hin zu schweren depressiven Episoden. Letztere gelten als systemische Störungen, die von körperlichen Erkrankungen beeinflusst werden, aber auch ihrerseits körperliche Krankheiten beeinflussen können.

Chronische Erkrankungen gehen oft mit Depression einher

Die Prävalenz depressiver Störungen kann nicht nur bei Menschen mit Diabetes, sondern auch bei vielen anderen chronischen Erkrankungen erhöht sein. Studien zufolge liegt sie zwischen 12–18 Prozent für Diabetes, 15–23 Prozent für koronare Herzkrankheit, 20–50 Prozent für chronische Nierenerkrankungen und 31–80 Prozent für Multiple Sklerose – gegenüber 3–4 Prozent in der Allgemeinbevölkerung.

Auch in eher rezenteren Metaanalysen ist die Prävalenz von Depression bei Menschen mit Typ-1-und Typ-2-Diabetes erheblich vergrössert. In einer dieser Analysen (2) wurden 44 Studien berücksichtigt. Darin war das Risiko bei Typ-1-Dia­betes etwa zweifach erhöht im Vergleich zur Kontrollgruppe (22 vs. 13%). Ähnlich fielen die Ergebnisse bei Typ-2-Diabetes aus (19 vs. 11 %). Eine andere Übersichtsarbeit (3) aus 109 Studien befasste sich eigens mit der Prävalenz von Depression und Angst bei Kindern. Demnach lag die Prävalenz bei Typ-1-Diabetes für Depression bei rund 22 Prozent und für Angststörungen bei knapp 18 Prozent. Bei Kindern mit Typ-2-Diabetes fand sich darin eine Depressionsprävalenz von knapp 23 Prozent.

Zur umgekehrten Frage, wie häufig sich Diabetes bei Menschen mit psychischen Erkrankungen findet, lieferte eine Übersichtsarbeit aus Meta-Analysen (Umbrella-Review) beachtenswerte Resultate (4). Demnach erwies sich die prozentuale Häufigkeit von Typ-2-Diabetes bei allen untersuchten psychischen Störungen als deutlich höher gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Obwohl die Werte zwischen den einzelnen Studien stark schwankten, hatten Menschen mit psychischen Störungen relativ hohe Diabetes-Prävalenzen. Zu den Störungen mit hohen Diabetes-Prävalenzen zählten etwa Schlafstörungen (40%), die bipolare Störung (11%), Depression (9%), Angststörung (rund 1%) und Binge-Eating-Störung (knapp 21%). 245 Beobachtungsstudien aus 32 systematischen Reviews wurden dabei berücksichtigt.

Psychische Erkrankungen erhöhen das Diabetesrisiko

Prof. de Zwaan vermutet dabei, dass die Beziehung zwischen Diabetes und psychischen Störungen bidirektional ist. Entsprechende Hinweise liefert ein zweites Umbrella-Review (5), das 25 systematische Reviews umfasst. Demnach konnten psychische Störungen als Risikofaktoren für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes identifiziert werden: Bei Depression lag das relative Risiko zwischen 1,18 und 1,60, bei Schlafstörungen bei 1,55–1,74 und bei Angststörungen bei 1,47. Noch einmal deutlich höher war das relative Risiko bei Behandlungen mit Antidepressiva (1,27–1,50) oder Antipsychotika (1,93–1,94).

Aktuell wird vermutet, dass Depressionen sowie andere psychische Störungen über Verhaltensweisen und biologische Mechanismen mit dem Typ-2-Diabetes in Beziehung stehen könnten (siehe. Kasten).

Auf Erklärungssuche

Die Henne oder das Ei?

Warum entwickeln Menschen mit Depression und anderen psychischen Störungen gemäss Studienlage gehäuft einen Typ-2-Diabetes? Behaviorale und biologische Mechanismen - und auch deren Interaktion - gelten als potenzielle Erklärungen:

Behaviorale Mechanismen:Biologische Mechanismen:
ungesunder ErnährungsstilGewichtszunahme und Adipositas
körperliche Inaktivitäterhöhte Aktivität an der Hypothalamus-
Hypophysen-Nebennierenrinden-
Achsen (HPA-Achsen)
hoher Alkoholkonsumerhöhte Aktivität des Sympathikus
RauchenInflammation, erhöhte Zytokine
Schlafstörungenerhöhte Insulinresistenz
geringe Adhärenz und Untersuchungen
und Medikamenteneinnahme
Dyslipidämie
komorbide Erkrankungen

Depressive Diabetiker sterben früher

Dies ist insbesondere deshalb bedeutsam, da die Komorbidität von Diabetes und Depression mit einer signifikanten Zunahme der Gesamtmortalität verbunden ist. Letztere liegt höher als die Mortalität durch Diabetes oder Depression allein im Vergleich zu Menschen, die keine der beiden Erkankungen haben, erläutert Prof. de Zwaan. Diese Resultate, die auf dem National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES-1) beruhen, konnten nun durch eine Taiwanesische Studie bestätigt werden (6).

Bei dieser Untersuchung zu Depression und Überlebensrate bei Menschen mit und ohne Diabetes wurden Patientendaten der Jahre 2000 bis 2015 berücksichtigt. Es zeigte sich: Sowohl Menschen, deren Depression noch vor ihrem Typ-2-Diabetes aufgetreten war, als auch Personen mit Depressionsbeginn nach der Dia­betesdiagnose hatten eine erhöhte Mortalität im Vergleich zu Menschen mit Diabetes ohne Depression.

Screening auf Depression in Diabetestherapie verankern

Als praxisrelevante Empfehlung leitet sich daraus ab, auf die eine oder andere Weise auf Depression zu screenen und gegebenenfalls eine Behandlung zu empfehlen, so die Expertin. Zum Screening eigne sich aus praktischer Sicht zunächst z.B. ein kurzer 2-Item-Screening-Test oder auch der frei verfügbare Patient Health Questionnaire (PHQ-9). Die Säulen einer Behandlung seien Schulung, Massnahmen der psychosomatischen Grundversorgung, gegebenenfalls eine Psychopharmakatherapie (cave: Gewichtszunahme) oder eine Psychotherapie.

Referenzen
  1. Diabetes-Update 2022, 11.-12. März 2022, Mainz, Deutschland
  2. Farooqi et al. A systematic review and meta-analysis to compare the prevalence of depression between people with and without Type 1 and Type 2 diabetes. Prim Care Diabetes. 2022 Feb;16(1):1-10. doi: 10.1016/j.pcd.2021.11.001. 
  3. Akbarizadeh et al. Prevalence of depression and anxiety among children with type 1 and type 2 diabetes: a systematic review and meta-analysis. World J Pediatr. 2022 Jan;18(1):16-26. doi: 10.1007/s12519-021-00485-2. 
  4. Lindekilde N et al. Prevalence of type 2 diabetes in psychiatric disorders: an umbrella review with meta-analysis of 245 observational studies from 32 systematic reviews. Diabetologia. 2022 Mar;65(3):440-456. doi: 10.1007/s00125-021-05609-x. 
  5. Lindekilde N et al. Psychiatric disorders as risk factors for type 2 diabetes: An umbrella review of systematic reviews with and without meta-analyses. Diabetes Res Clin Pract. 2021 Jun;176:108855. doi: 10.1016/j.diabres.2021.108855.
  6. Huang CJ et al. Mortality and Suicide Related to Major Depressive Disorder Before and After Type 2 Diabetes Mellitus. J Clin Psychiatry. 2022 Jan 11;83(1):20m13692. doi: 10.4088/JCP.20m13692.