Schon Kleinkinder spielen zu viel am Handy
2,5 Stunden spielt ein zweijähriges Kind durchschnittlich jeden Tag mit dem Smartphone. Experten warnen dabei vor möglichen psychischen und physischen Folgeschäden. Wollen Eltern etwas an der "Abhängigkeit" ihrer Kinder ändern empfiehlt sich zuallererst ein Blick auf das eigene Medienverhalten.
In der westlichen Welt gibt es wohl kaum ein Kind, das bisher nicht in Kontakt mit einem Tablet oder Smartphone gekommen ist. 90% spielen damit schon im Kleinkindalter – und das teilweise mehrere Stunden am Tag. "Dabei wurden diese Geräte eigentlich überhaupt nicht als Spielzeuge konzipiert", betont Professor DDr. Manfred Spitzer, Universitätsklinikum Ulm.
Ein bis 2,5 Stunden Bildschirmkonsum bei Kleinkindern
Rund 49 Minuten am Tag verbringen Kinder unter zwei Jahren bereits vor den Bildschirmen. Dies erhöht sich auf 2,5 Stunden im Alter von zwei bis vier Jahren und auf mehr als drei Stunden bei den Fünf- bis Achtjährigen. Drei Viertel der Zeit werden Videos angeschaut, vornehmlich auf YouTube oder Netflix. Nur ein, bzw. drei Prozent entfallen auf "sinnvolle" Aktivitäten, wie Hausaufgaben oder Lesen.
Insbesondere bei YouTube ist allerdings ein Grossteil des Angebots nicht werbefrei, und die Werbung in vielen Fällen nicht altersgerecht. "30% der Videos, die die Kinder in diesem Alter sehen, enthalten Gewalt", kritisiert Prof. Spitzer.
Besonders bei einkommensschwachen Familien hat der Medienkonsum in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Hier verbringt der Nachwuchs pro Tag inzwischen fast zwei Stunden mehr vor dem Bildschirm als in Haushalten von Besserverdienern. Auch besteht in Familien mit niedrigem Einkommen eher die Überzeugung, dass digitale Medien die Bildung der Kinder fördern und sie somit von deren Einsatz profitieren. Immerhin 16 Prozent aller Eltern glauben zudem an einen positiven Effekt auf die sportliche Aktivität der Kinder.
Kinder lieben Geschichten
Doch was macht Smartphone, Tablet & Co. gerade für kleine Kinder so unglaublich attraktiv? "Kinder reagieren besonders schnell und unreflektiert mit einer Verstärkung von Verhaltensweisen", erklärt Prof. Spitzer. Rasche Bildfolgen, animierte Figuren und leuchtende Farben fesseln die Aufmerksamkeit so sehr, dass sich die Kinder kaum mehr davon lösen können – und wenn, dann oft nur unter heftigem Protest oder Geschrei.
Dies zeigen unter anderem die Ergebnisse einer US-amerikanischen Studie. Forscher verglichen die Verhaltensweisen von 72 Kindern, nachdem diese jeweils drei Minuten in randomisierter Reihenfolge mit einem Buch und zwei verschiedenen Tablet-Apps gespielt hatten. Die beiden digitalen Anwendungen unterschieden sich bezüglich ihrer Interaktivität: reines Autoplay vs. Autoplay mit manuellen Zusatzfunktionen. Das Buch war mit Screenshots aus den Tablet-Apps bebildert. In allen drei Medien ging es um Kinderreime.
Interaktive Apps machen besonders süchtig
Nach Ablauf der Zeit musste das "Spielzeug" wieder in eine Schachtel zurückgelegt werden. Spielten die Kinder zuerst mit dem Buch, gab es am Ende der drei Minuten keine Auffälligkeiten. Ganz anders sah es aus, wenn die Kinder von einer App auf die andere oder auf das Buch wechseln sollten. Hier reagierte fast jedes vierte Kind mit Weinen, Schreien, Wutausbrüchen und Ähnlichem. Die interaktive App zeigte dabei noch einen etwas höheren "Suchtfaktor" als das reine Autoplay. Wurde zuerst mit der App und danach mit dem Buch gespielt, gab es beim Weglegen des Buchs zwar etwas mehr Widerstand, als wenn dieses zuerst verwendet wurde. Aber immer noch deutlich weniger als beim abrupten Beenden einer der beiden Apps.
Zusammenhang mit psychischen Problemen
Der permanente Gebrauch des Smartphones bleibt nicht ohne Folgen – weder bei Kindern noch bei Erwachsenen, warnt Prof. Spitzer. Israelische Forscher stellten Zusammenhänge zwischen dem Smartphone-Konsum mit dem Entstehen von psychischen Störungen her. Depressionen, ADHS, erschwerter Regulation von Aufmerksamkeit und Emotionen, Impulsivität und der Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen waren dabei vermehrt bei Smartphone-affinen Probanden präsent. Auch ein geringes Selbstwertgefühl und Schüchternheit können darin ihren Ursprung haben. Aber auch zu seltenerem Sport, Schlafproblemen, ungesunden Essgewohnheiten und Migräne könne das häufige Smartphone-Schauen begünstigen.
Elterliches Verhalten als Treiber
Eltern sollten besonders in Anwesenheit ihrer Kinder darauf achten, wie oft sie selbst einen Blick aufs Smartphone werfen. Denn beschäftigt sich ein Elternteil mit dem Telefon, gleicht dies einem "Still-Face-Experiment": Der Erwachsene wirkt abwesend und ausdruckslos, das pädagogische Verhalten und die Reaktionsfähigkeit nehmen nachgewiesenermassen ab. Kinder reagieren darauf, indem sie zuerst mit allen Mitteln nach Aufmerksamkeit heischen, schliesslich verzweifeln und sich dann emotional und körperlich zurückziehen.
Aus Studien mit depressiven Müttern weiss man, "dass sich ihr zurückgezogenes und wenig responsives Verhalten negativ auf die kindliche kognitive und emotionale Entwicklung auswirkt", warnt Prof. Spitzer. Langfristig könne dies ein gestörtes Sozialverhalten und andere psychische Störungen zur Folge haben. Er appelliert: "Wann wachen wir auf, nennen die Probleme beim Namen und beginnen damit, die nächste Generation vor den Folgen des Smartphones zu schützen?"
Referenz
Spitzer M. Nervenheilkunde 2021; 40: 848–852.