Medical Tribune
25. Aug. 2021Das sind die wichtigsten Syndrome

Achtmal Schwindel

Nur acht Syndrome sind in der Praxis für mehr als 70 % aller Schwindelpräsentationen verantwortlich. Die Diagnose lässt sich oft schon anhand der charakteristischen Symptome stellen. Ein kurzer Überblick.

Unscharfe menschliche Füße mit dem Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren
iStock/Branislav

Akute unilaterale Vestibulopathie

Typisch für die akute unilaterale Vestibulopathie sind meist über Tage anhaltende heftige Drehschwindelattacken mit Fallneigung, Übelkeit und scheinbarem Wackeln der Umgebung (Oszillopsie). Bei der Untersuchung fällt ein horizontal rotierender Nystagmus zur gesunden Seite auf. Die subjektive visuelle Vertikale ist in Richtung des betroffenen Labyrinths verkippt.

Ein Hörschaden besteht nicht, schreiben PD Dr. Andreas Zwergal und Dr. Marianne Dieterich vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum in München. Bei schwerer Nausea helfen Antivertiginosa, wegen der verzögerten zentralen Kompensation sollten diese jedoch nicht langfristig eingesetzt werden. Gleichgewichtsübungen vor allem in den ersten vier bis acht Wochen fördern die zentrale vestibuläre Plastizität.

Dauer der Beschwerden

  • akut: Tage bis Wochen
  • episodisch: Sekunden bis Tage
  • chronisch: Monate bis Jahre

Vestibulärer Schlaganfall

Die Diagnose dieser Form des Hirninsults basiert in erster Linie auf den klinischen Zeichen. Betroffene leiden häufig an einem Dreh- oder Schwankschwindel und Doppelbildern. Bei der klinischen Untersuchung fallen zentrale vestibuläre und okulomotorische Zeichen auf, z.B. eine Kombination von normalem Kopfimpulstest, Vertikaldeviation der Augen und richtungswechselndem Nystagmus. Auch Dysarthrie und Ataxie können auf einen vestibulären Schlaganfall hinweisen. Das MRI ist in den ersten 24 Stunden häufig falsch negativ. Kurze Attacken oder geringfügige Symptome schliessen einen Insult nicht aus. Eine Lysetherapie wird für schwer geschädigte Patienten (z.B. fehlende Stehfähigkeit) und bei proximalem Verschluss der A. cerebellaris inferior posterior empfohlen.

Benigner Lagerungsschwindel

Charakteristisch für diese Form der Vertigo sind rezidivierende kurze Drehschwindelattacken (< 1 Minute) ausgelöst durch eine Veränderung der Kopflage relativ zur Schwerkraft (z.B. beim Hinlegen oder Umdrehen im Bett). Dabei werden Kalziumkalzit-Kristalle, die sich von der Macula utriculi ablösen, in die entsprechenden Bogengänge verlagert (meist posterior). Mit diagnostischen Lagerungsmanövern lässt sich ein vertikaler Nystagmus (Richtung Stirn) mit torsioneller Komponente (oberer Augenpol schlägt zum unten liegenden Ohr) erzeugen. Die Augenbewegungen halten meist weniger als eine Minute an. Mit gezielten Befreiungsmanövern (Sémont, Epley), die der Patient auch selbst durchführen kann, lassen sich die Beschwerden in mehr als 95 % der Fälle beseitigen.

Weitere episodische Schwindelsyndrome
Bewegungskrankheit
Manifestation während des Transports in Fahrzeugen (Auto, Schiff), anfangs leichter Schwindel mit Oszillopsien, im Verlauf Nausea, Erbrechen und Koordinationsstörungen, Apathie, Vernichtungsangst
Prophylaxe: Gewöhnung durch wiederholte Reizexposition, Antivertiginosa (Dimenhydrinat, Scopolamin)
Mal-de-Débarquement-Syndrom
persistierender nichtrotatorischer Schwindel mit Stand- und Gangunsicherheit an Land (meist nach längeren Schiffsreisen), 2 Std. bis > 1 Monat
Therapie: Aufklärung über Harmlosigkeit, Rat zu normaler Lebensführung und Sport
visuelle Höhenintoleranz
Schwankschwindel, Stand- und Gangunsicherheit vor allem auf Türmen, beim Bergwandern oder Überqueren von Brücken, hohe Komorbidität mit vestibulärer Migräne, M. Menière, Angststörung und Depression
Prophylaxe: Fixieren des Horizonts, nicht in den Abgrund schauen, Festhalten und Ablenken durch kognitive Aufgaben (Rechnen, Namensliste)
Vertebralarterienverschluss bei Kopfwendung
kurz anhaltender Drehschwindel durch Kompression der dominanten Vertebralarterie in Höhe C1, C2
konservative Therapie, chirurgische oder vaskuläre Intervention
Becker-Bense S, Huppert D. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 221-232; doi: 10.1055/a-1353-4893.

Morbus Menière

Rezidivierende Schwindelattacken mit fluktuierenden Ohrsymptomen (Hörminderung, Tinnitus oder Ohrdruck) wecken den Verdacht auf einen Morbus Menière. Voraussetzung für die Diagnose sind zwei oder mehr spontane Vertigo-Episoden (Dauer 20 min bis 12 Std.). Zusätzlich muss eine sensorineurale Hypakusis im Tief- bzw. Mitteltonbereich nachgewiesen sein (während oder nach einem Schwindelanfall). Die Pathogenese ist noch nicht vollständig geklärt, vermutet wird eine Störung der Flüssigkeitsdynamik im Innenohr mit nachfolgendem Endolymphhydrops. Schwindel, Nausea und Emesis lassen sich mit Antivertiginosa lindern. Zur Reduktion der Attackenfrequenz gibt es positive Daten für die intratympanale Instillation von Steroiden und eine langfristige orale Therapie mit Betahistin.

Vestibuläre Migräne

Wiederholte Schwindelattacken (fünf Minuten bis 72 Stunden) mit begleitender Cephalgie bei Migränepatienten (aktiv oder in der Anamnese) lassen an diese Kopfschmerzform denken. Während der Episoden kann es zu einem Spontan- oder zentralen Lagenystagmus kommen. Im Gegensatz zum vestibulären Schlaganfall ist die subjektive visuelle Vertikale meist normal. Zur Anfallsprophylaxe werden vornehmlich Betablocker, Topiramat, Valproat (Cave: Teratogenität), Flunarizin und Magnesium genutzt.

Bilaterale Vestibulopathie

Kennzeichen dieses chronischen Syndroms ist ein bewegungsabhängiger Gang- und Schwankschwindel mit Gangunsicherheit. Diese verstärkt sich in der Dunkelheit und auf unebenem Grund. Ausserdem kann es beim schnellen Kopfwenden oder Gehen zu Scheinbewegungen der Umwelt kommen (Oszillopsien). Eine Ursache lässt sich nur in etwa 25 % der Fälle eruieren. Unter den Auslösern dominieren Aminoglykoside, beidseitiger M. Menière und Meningitis mit Innenohrbeteiligung. Die mit einer hohen Sturzgefahr verbundene Presbyvestibulopathie entsteht wahrscheinlich durch einen altersbedingten Haarzellverlust im Innenohr. Gang- und Gleichgewichtsübungen fördern die Habituation an den Funktionsausfall.

Zerebellärer Schwindel

Die kleinhirnbedingte Vertigo führt überwiegend zu anhaltenden Schwindelbeschwerden, seltener zu Schwindelattacken oder einer Kombination beider Formen. Viele Patienten weisen isolierte Auffälligkeiten in der okulomotorischen Funktion des Zerebellums auf, insbesondere Störungen der glatten Blickfolge sowie Blickrichtungs- und Kopfschüttelnystagmus. Zur symptomatischen Therapie eignen sich Aminopyridine. Regelmässiges Gleichgewichts- und Gehtraining mindert die Sturzgefahr und hilft, die Mobilität zu erhalten.

Funktioneller Schwindel

Diese Gleichgewichtsstörung kann sich primär ohne organisches Korrelat entwickeln oder als Folge einer Vestibulopathie, wobei das Ausmass der Symptomatik nicht zum körperlichen Befund passt. Typisch ist ein fluktuierender Dauerschwank- oder Benommenheitsschwindel bzw. eine subjektive Gang- und Standunsicherheit. Die Therapie besteht in einer Desensibilisierung durch Eigenexposition, regelmässigem Sport und bei Bedarf Verhaltenstherapie. Zur Behandlung persistierender Beschwerden werden SSRI und SNRI empfohlen.

Zwergal A, Dieterich M. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 211–220; doi: 10.1055/a-1432-1849.