Per Eiswürfel zur Urtikaria-Diagnose
Die kälteinduzierte Urtikaria ist eine Sonderform der chronischen Urtikaria, bei der durchaus die Gefahr für eine Anaphylaxie besteht. Die zugelassenen Therapieoptionen haben relativ bescheidene Effekte. In schweren Fällen muss man daher die Off-label-Karte ziehen.
Typisch für die Kälteurtikaria sind durch niedrige Temperatur ausgelöste juckende Quaddeln, die meist während der Wiedererwärmung auftreten und in der Regel nach einer Stunde wieder abklingen. Die Hauterscheinungen lassen sich z.B. mit einem Kältereiz auf der Haut oder einem entsprechenden Testsystem reproduzieren. Von der typischen Kälteurtikaria abgrenzen kann man atypische Varianten. Dazu gehören systemische oder streng lokalisierte Formen, eine verzögert auftretende Variante, eine kälteinduzierte cholinerge Urtikaria sowie ein kälteabhängiger Dermographismus.
Weiterhin Fragezeichen hinter Ätiopathogenese
Ob die zusätzliche Einteilung in primär und sekundär in der klinischen Praxis von Nutzen ist, muss angezweifelt werden, schreiben Natalya Maltseva vom Zentrum für Allergie und Immunologie am Clinical State Hospital 52 in Moskau und Kollegen. Die potenziell kausalen Zusammenhänge einer Kälteurtikaria mit bakteriellen Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Medikamenten oder Insektenstichen seien schwammig.
Insgesamt wird die Inzidenz der Erkrankung auf 0,05 % geschätzt, in kälteren Klimazonen ist die Rate etwas höher. Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein und tendenziell beginnt die Kälteurtikaria eher im mittleren Lebensalter.
Die Ätiopathogenese bleibt weiterhin unklar. Eine Theorie ist, dass die Kälteexposition zu einer De-novo-Bildung von Autoantigenen führt, die dann eine IgE-Antwort mit nachfolgender Mastzelldegranulation und Histamin-Freisetzung triggern. Bisher konnten allerdings keine kälteabhängigen Hautantigene identifiziert werden.
Die klinischen Symptome sind individuell verschieden und reichen von ein paar lokal auftretenden Quaddeln bis hin zu schweren systemischen Reaktionen (z.T. Anaphylaxie) mit Hypotonie, Schwindel, Diarrhö, Desorientiertheit und Schock. Auch Fieber, Fatigue, Dyspnoe, Tachykardie, Kopfschmerzen und uterine Kontraktionen sind beschrieben. Bei manchen Patienten kommt es auch zur Schleimhautbeteiligung mit oder ohne Angioödem.
Die konkrete Temperaturschwelle, ab der die Hautreaktionen auftreten, kann ebenfalls stark variieren. Kältetrigger kann ein direkter Hautkontakt zu Oberflächen oder Wasser sein, aber auch kalte Luft oder der Verzehr von kalten Getränken oder Speisen können Symptome auslösen. Einige Patienten haben zusätzlich andere Urtikaria-Formen wie symptomatischen Dermographismus sowie cholinerge, aquagene oder solare Urtikaria.
Der klinische Verlauf lässt sich schwer vorhersagen. Man geht bei der chronischen Kälteurtikaria im Schnitt davon aus, dass sie nach etwa sechs Jahren wieder verschwindet, einige Betroffene haben aber mehr als 20 Jahre damit zu kämpfen. Prädiktoren für einen längeren Krankheitsverlauf sind unter anderem früher Beginn, schwere Symptome und eine höhere Kältesensitivität in den Tests.
Individuelle Schwelle kann bestimmt werden
Die Diagnose wird anhand der typischen Anamnese und Symptomatik und eines positiven Kältexpositionstests gestellt (Eiswürfel im dünnen Plastikbeutel oder latexfreiem Handschuh für 5 Minuten am Unterarm oder der TempTest). Nach 10 Minuten wird die Reaktion abgelesen. Antihistaminika oder systemische Glukokortikoide sollten drei bis sieben Tage vor dem Test abgesetzt werden. Der TempTest hat den Vorteil, dass durch den Gradienten auch die individuelle Temperaturschwelle standardisiert bestimmt werden kann.
Empfohlene Laboruntersuchungen sind Differenzialblutbild und Entzündungsparameter (BSG und CRP). Nach zugrunde liegenden Infektionen sollte nur bei bestehendem Verdacht gesucht werden. Eine positive Cryoglobulin-Serologie scheint nach derzeitigem Wissen kein wesentlicher Faktor zu sein – die genaue Rolle der Cryoglobuline bleibt aber unklar.
Wichtige Differenzialdiagnosen sind u.a. Mastozytose, Kältepannikulitis, Chilblain Lupus erythematodes, aber auch Cryopyrin-induzierte periodische Syndrome (CAPS) sowie das PLAID-Syndrom (Phospholipase-Cg2-associated antibody deficiency and immune disregulation) und seltener die kryoglobulinämische Vaskulitis.
Therapeutisch steht das Vermeiden der auslösenden Kältetrigger an erster Stelle, was aber nicht in allen Fällen möglich ist. Zur symptomatischen Behandlung können hoch dosierte, nichtsedierende Antihistaminika der zweiten Generation eingesetzt werden. Bis zu 30 % der Patienten erreichen dadurch einen Schutz – Anaphylaxie-Gefahr besteht bei starker Exposition aber weiterhin. Reicht diese Medikation nicht aus, lohnt sich der Versuch mit dem Anti-IgE-Antikörper Omalizumab. Sein Einsatz ist allerdings off label. Patienten mit bekannten systemischen Reaktionen kann man zusätzlich einen Adrenalin-Autoinjektor verschreiben.
Maltseva N et al. Allergy 2021; 76: 1077–1094.