Ist dieses (neue) Medikament wirklich nötig?
Fast alle Senioren 70+ haben mehr als eine Erkrankung und die meisten nehmen jeden Tag eine Handvoll verschiedener Medikamente ein. Die Polypharmazie erhöht das Risiko für Nebenwirkungen. Am virtuellen Kongress Osteologie 2021 berichtete der Geriater Dr. Helmut Frohnhofen, Universitätsklinikum Düsseldorf, was bei der Behandlung älterer Menschen zu beachten ist.
Grundsätzlich muss bei jeder (neuen) Erkrankung entschieden werden, ob eine Therapie eingeleitet werden soll oder nicht. Bei dieser Entscheidung spielt die Frage nach den kurz- und langfristigen Auswirkungen für den Patienten eine zentrale Rolle. Gerade bei älteren Menschen ist es nicht leicht, eine rationale Entscheidung zu treffen. Denn bei den Senioren nimmt die Kompensationsfähigkeit ab. Das macht sie anfälliger für das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW). Auch die Leistungsfähigkeit ist bei Patienten 70+ meist reduziert. Im Mittel haben sie drei bis vier relevante Einschränkungen. Dr. Frohnhofen empfiehlt daher, sich bei der Entscheidung für oder gegen eine Therapie am «klinischen Wertekompass» zu orientieren. Im Vordergrund steht dabei natürlich die Klinik: Wie sind Morbidität und Mortalität der zu behandelnden Erkrankung? Wie ist der körperliche und geistige Zustand des Patienten? Wie ist seine soziale Rolle? Aber auch die Perspektive des Patienten muss mit in die Entscheidung einfliessen: Wie ist sein selbst empfundenes Wohlbefinden? Welche Erwartungen hat er an die Therapie? Und nicht zuletzt spielen immer auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle.
Polypharmazie erhöht Interaktionsrisiko
Viele Senioren müssen mehrere Medikamente einnehmen. Im Schnitt sind es sieben verschiedene Präparate – damit ist die WHO-Definition der Polypharmazie erfüllt und das Interaktionsrisiko deutlich erhöht. Anhand eines einfachen Scores von 0–10 (siehe Abbildung) lassen sich Patienten mit einem erhöhten Risiko für unerwünschte Medikamentenwirkungen identifizieren. Je höher der Score, desto höher das Risiko. Allerdings heisst ein hoher Score nicht automatisch, dass UAW auftreten müssen. So hat bei einem Score von 9 nur etwa jede vierte Patient eine UAW. Das zeigt auch die Erfahrung aus der Praxis. Meist werden selbst viele Medikamente gut vertragen, so Dr. Frohnhofen. Allerdings beeinflusst die Anzahl der einzunehmenden Medikamente auch die Therapietreue der Senioren.
Risiken für Nebenwirkungen
von Medikamenten | |
Faktor | Punkte |
> 4 Komorbiditäten | 1 |
Herzinsuffizienz | 1 |
Lebererkrankung | 1 |
verordneten Präparate < 5 5–7 > 8 | 0 1 4 |
UAW in der Vorgeschichte | 2 |
GFR < 60 ml/min | 1 |
Die grösste Rolle hinsichtlich der UAW spielt eine eingeschränkte Nierenfunktion. Dabei hat fast die Hälfte aller Senioren 60+ eine relevant reduzierte glomeruläre Filtrationsrate (GFR). Vor allem bei Patienten mit vorgeschädigten Nieren oder mit Diabetes mellitus ist daher die Nierenfunktion im Auge zu behalten. «Da sollte man alles vermeiden, was die Nieren zusätzlich belasten könnte», warnte Dr. Frohnhofen. Das gilt insbesondere in der Schmerztherapie für NSAR und bei der Behandlung der arteriellen Hypertonie für ACE-Hemmer oder Sartane.
Weitere Entscheidungsparameter für die Auswahl einer adäquaten Therapie im hohen Lebensalter sind die zu erwartende verbleibende Lebenszeit, die Dauer bis zum Wirkungseintritt der geplanten Therapie, die generellen Ziele der Versorgung, aber auch die individuellen Therapieziele. «Wir können die verbleibende Lebenszeit schlecht prognostizieren, aber es gibt Scores, die uns dabei helfen», berichtete Dr. Frohnhofen.
So lassen sich ältere Menschen der gleichen Altersgruppe in vier Gruppen einteilen: Fitte, Gebrechliche, Demenzkranke, die noch mobil sind, und dauerhaft schwer Pflegebedürftige. So ergeben sich bei Senioren im gleichen Alter anhand der funktionellen Parameter unterschiedliche Therapieziele und damit vollkommen unterschiedliche Versorgungsbedürfnisse.
Ziele einer geplanten Therapie müssen klar sein
Natürlich spielt auch die Dauer bis zum Wirkeintritt einer Therapie eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung. Während eine Schmerztherapie meist unmittelbar wirkt, kann es bei Präparaten gegen Osteoporose mehrere Monate dauern, bis ein signifikanter Effekt eintritt. Auch sollte man sich immer die Ziele einer geplanten Therapie klar machen. So gelingt bei einer Osteoporose auch bei Älteren zwar die Reduktion der Frakturrate, einem bettlägerigen Patienten nützt dies jedoch nichts.
Selbstverständlich sind, bevor eine Therapie eingeleitet wird, immer vorliegende Kontraindikationen zu überprüfen. Und nicht zuletzt gilt es potenzielle UEWs gegenüber dem zu erwartenden Nutzen abzuwägen. Am Beispiel der Osteoporose zeigte der Experte, dass der Benefit der Pharmakotherapie auch bei Senioren bei Weitem das Risiko überwiegt. Natürlich kommen auch hier unerwünschte Effekte vor. Diese sind aber in der Regel eher lästig als gefährlich, so Dr. Frohnhofen. Für das Beispiel der medikamentösen Behandlung der Osteoporose bei Senioren lautet seine Entscheidung daher: «Prinzipiell eher Ja».