Medical Tribune
22. März 2017Patienten mit Migrationshintergrund

Zwischen Kranksein und Krankheit unterscheiden

«Es gibt keine Migrationsmedizin», sagte Dr. Heinrich Kläui, FMH Innere Medizin, Bern, einleitend anlässlich des Workshops «Mi­granten in der hausärztlichen Praxis – was ist zu beachten» am 56. Ärzte- fortbildungskurs von Lunge Zürich. Wenn es keine Migrationsmedizin gibt, kann das bedeuten, dass wir sie einfach nicht brauchen – oder aber dringend brauchen würden, aber noch nicht so weit sind. Ziel war es, eine Antwort gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmern zu erarbeiten.

Flüchtlinge auf der Reise
iStock/vichinterlang

Patienten mit Migrationshintergrund sind auf Ärzte angewiesen, die Hintergrundwissen und Verständnis mitbringen, um hinter den nicht selten vordergründigen Symptomen und Beschwerden das Leiden, das Leid und die Angst dieser Menschen zu sehen. Als Konsiliararzt im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (1996–2012) kann der Referent auf langjährige Erfahrung zurückblicken.

Ein Blick zurück: Schweizer Migranten

Dr. Kläui zeigte eine Reihe von Ausschnitten aus der New York Times, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts publiziert worden waren. Die Zeitung berichtet über einen nicht enden wollenden Strom von Migranten aus der Schweiz, die total verarmt in die USA kamen. Der Heimatort hatte die Schiffspassage bezahlt, um armengenössige Mitbürger loszuwerden. Das Bundesamt für Migration verweist auf die Auswanderungstradition in der Schweiz. Zwischen 1840 und 1900 waren 330 000 Menschen ausgewandert, die Mehrzahl nach Nord- oder Südamerika. Auch Auswanderungsagenturen gab es schon damals, die teilweise mit übelsten Machenschaften die Migranten ausbeuteten. Daher trat 1880 ein Bundesgesetz in Kraft, das dem Bund die Überwachung solcher Schlepper übertrug. Handelte es sich bei den damaligen Schweizer Auswanderern um «Wirtschaftsflüchtlinge», die in der Heimat keine Existenzgrundlage mehr hatten? Der leidende Mensch und seine Krankheit

So wie es «den Schweizer» nicht gibt, existiert auch «der Migrant» nicht. Trotzdem müssen gewisse Unterschiede berücksichtigt werden, wenn man Patienten mit Migrationshintergrund betreut und behandelt. Für Fachpersonen von Bedeutung sind vor allem Sprachprobleme und die damit verbundenen Verständigungsschwierigkeiten, Zeitmangel, die unsichere Compliance der Patienten, (zu) wenig Information über die Lebenssituation sowie (zu) wenig strukturelle Ressourcen, wie z. B. ein professioneller Übersetzungsdienst. Daraus resultiert die Gefahr von Stereotypisierungen und Kulturalisierungen, so Dr. Kläui.
Wichtig ist es, sich Zeit zu nehmen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und Verständnis entgegenzubringen. Hintergrundwissen hilft, und oft genug geht es nicht ohne Hilfe von professionellen Übersetzern. Er zitierte Sir William Osler: «Es ist wichtiger, etwas über den kranken Patienten zu wissen als zu wissen, von welcher Krankheit der Patient betroffen ist.»
Wenn immer möglich, sollte der Arzt etwas über die Biografie, die Bildung, Integration, Lebenswelt, Ressourcen und den Aufenthaltsstatus in Erfahrung bringen, um das Anliegen und Leiden des Patienten in diesem Kontext besser verstehen zu können.
Mit einer strukturierten, migrationsspezifischen Anamnese schafft man eine Basis, die unverzichtbar ist, um nicht in die Stereotypisierungs- und Kulturalisierungsfalle zu tappen. Im Grunde handelt es sich um eine modifizierte psychosoziale Anamnese. Vier Aspekte gilt es dabei zu berücksichtigen:

  • Herkunftsgeschichte: Wie sah die rechtliche, soziale und ökonomische Situation im Herkunftsland aus? Wie war das Gesundheitsverhalten? Gab es Traumatisierungen?
  • Migrationsgeschichte: Was hat die Person zur Flucht motiviert, wie ist die Flucht verlaufen? Gab es dort traumatische Erlebnisse?
  • Integrationsgeschichte: Wie sind aktuell der rechtlicher Status sowie die soziale und ökonomische Situation? Welches Gesundheitsverhalten zeigt der Patient? Gibt es ein internationales Netzwerk?
  • Zukunft: Wie sehen die Berufspläne aus? Wo befindet sich die Familie Ist eine weitere Migration geplant?

Nicht selten scheitert bereits die erste Kontaktaufnahme an Sprachproblemen. Dr. Kläui wies darauf hin, dass Angehörige in aller Regel als Dolmetscher wenig geeignet sind und Kinder – wenn möglich – nicht involviert werden sollten. Wenn rasch und unbürokratisch ein Dolmetscher hinzugezogen werden sollte, bietet sich eine vom BAG eingerichtete Nummer für den Verständigungsnotfall an, die an 365 Tagen im Jahr erreichbar ist: 0842 442 442.
Rund um die Uhr stehen hier zertifizierte Dolmetscher zur Verfügung, die der Schweigepflicht unterliegen. Ein Anruf kostet 3 CHF pro Minute und mindestens 30 CHF pro Auftrag – eine Summe, die gut investiert ist. Einige Kollegen machten auch schon gute Erfahrungen mit Google Translator. Bei migrationsspezifischen medizinischen Problemen kann man auf Therapieempfehlungen zurückgreifen, wie z. B. die «Guideline Migrationsmedizin», die von mediX publiziert wurde.1

Ticken Migrant und Arzt unterschiedlich?

Besteht bei einem Migranten eine akute Bagatellerkrankung mit eindeutigen Symptomen, kann rasch geholfen werden. Wenn jedoch nicht zwischen «illness» und «disesase» also zwischen Kranksein und Krankheit, differenziert wird, kann es komplizierter werden. Es ist unerlässlich, das Krankheitsmodell des Patienten zu verstehen, was angesichts der Sprachbarriere schwierig werden kann.
In der Agenda des Patienten (Illness-Perspektive) stehen Erwartungen, Gefühle und Ängste im Vordergrund, er will sein Kranksein verstehen. Der Arzt ist auf die Disease-Perspektive geeicht, mit Anamnese, Untersuchung und Differenzialdiagnose, erläuterte Dr. Kläui. Gelingt es, ein integratives Konzept aus beiden Agenden zu entwickeln, sind die Erfolgsaussichten für die Behandlung günstig. Von Bedeutung ist hier der Fragenkatalog von Arthur Kleinmann, der auch nach 40 Jahren nichts an Aktualität verloren hat (s. Kasten).

Diese Aspekte sollte der Hausarzt beachten

Wenn es den Ärzten gelingt, transkulturelle Kompetenz zu entwickeln, werden sich medizinische Herausforderungen besser meistern lassen. Als wichtige Aspekte nannte Dr. Kläui:

  • Wahrnehmung der individuellen Lebenssituation des Migranten
  • migrationsspezifisches Hintergrundwissen
  • keine Kulturalisierung zulassen, Vielfalt akzeptieren
  • Empathie, Respekt, Flexibilität
  • Vertrauensbeziehung aufbauen
  • Kommunikation sicherstellen (Dolmetscherdienste)
  • Perspektivenwechsel: Erklärungsmodelle einbeziehen. 

 

1. Huber F, Beise U. Guideline Migrationsmedizin.

www.medix.ch/wissen/guidelines/infektionskrankheiten/migrationsmedizin/

Fragenkatalog nach Arthur Kleinmann (1977)

  • Wie bezeichnet man die Beschwerden in Ihrer Muttersprache?
  • Kennen Sie jemanden, der ähnliche Beschwerden hat?
  • Was hat Ihrer Ansicht nach die Beschwerden verursacht?
  • Warum treten die Beschwerden gerade zu diesem Zeitpunkt auf?
  • Warum gerade bei Ihnen?
  • Was sagen Familie und Freunde zu Ihren Beschwerden?
  • Was glauben Sie, machen die Beschwerden mit Ihnen?
  • Wie funktioniert das?
  • Welche Behandlung sollten Sie Ihrer Meinung nach erhalten?
  • Welche Resultate erhoffen Sie sich?
  • Wovor haben Sie in diesem Zusammenhang am meisten Angst?