Super Mario kämpft gegen Depressionen
Herrscht ein Ungleichgewicht zwischen Anforderungen der Umwelt und der Kapazität eines Individuums, kommen normalerweise neuronale Plastizitätsprozesse in Gang.

Die Sache mit der Plastizität
Jahrzehntelang galt die Lehrmeinung, dass der Mensch mit einer gewissen Menge von Neuronen geboren wird und deren Anzahl im Lauf des Lebens immer weiter abnimmt. Das Konzept der Neuroplastizität hat diese Vorstellung längst abgelöst. Neuronale Plastizität umfasst nicht nur die Neurogenese – also die Bildung von Nervenzellen –, sondern auch Veränderungen an Dendriten, Axonen, Gliazellen und Hirngefässen; sogar kurzfristige Veränderungen der Neurotransmission zählen dazu. Negative Faktoren wie Stress, Schlafmangel und Entzündungsprozesse im Körper könnten nach aktuellem Forschungsstand die Neurogenese bremsen und so psychische Symptome begünstigen.
Im Rahmen einiger psychischer Erkrankungen scheint diese Plastizität in bestimmten Hirnregionen jedoch ein Defizit aufzuweisen. Forscher konnten zeigen, dass Stressereignisse bei Erwachsenen mit einem reduzierten Volumen des Hippocampus einhergehen – was wiederum einen Risikofaktor für Depressivität darstellt.
Umgekehrt stimulieren Antidepressiva die Neurogenese im Hippocampus; und sie fördern Reifung sowie Überleben der neu entstandenen Nervenzellen, erklären Dr. Simone Kühn und Professor Dr. Jürgen Gallinat von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
Kleinerer Hippocampus bei Psychosekranken
Auch bei der Schizophrenie verdichten sich die Hinweise auf eine Assoziation zur veränderten neuronalen Plastizität. Dafür spricht u.a. die Beobachtung, dass der Hippocampus bei schizophrenen Patienten kleiner ist als bei Gesunden und eine veränderte neurochemische Zusammensetzung aufweist.
Atypische Antipsychotika scheinen zwar die Neurogenese nicht direkt beeinflussen zu können, doch fördern sie die Reifung und Überlebensfähigkeit von Nervenzellen.Welche Möglichkeiten gibt es also, die Plastizität zu verbessern?
Sport kann Symptome bei Depression, Schizophrenie oder Angststörungen mindern und (zumindest bei Gesunden) auch das Hippocampusvolumen vergrössern. Bei kranken Personen findet man diesen Volumeneffekt jedoch weniger, vermutlich weil sich diese Patienten langfristig nur schwer für sportliche Aktivitäten begeistern lassen.
Mit einer weiteren Therapieoption, dem kognitiven Training, sollen krankheitsspezifische Defizite verbessert werden. Allerdings hat die Praxis gezeigt, dass der erhoffte Transfer der trainierten Fähigkeit auf neue, ungeübte Aufgaben meist ausbleibt.
Per Neurogenese der Demenz ein Schnippchen schlagen
Die Hamburger Experten beschreiten einen neuen Weg: Sie wollen den Betroffenen mit Videospielen helfen. Eine Studie liess bereits vermuten, dass das Belohnungssystem im Gehirn während des Videospielens hochaktiv ist und reichlich Dopamin freigesetzt wird.
Die Dopaminausschüttung ihrerseits ist eine wichtige Voraussetzung für Lernprozesse und für neuronale Plastizität. Es zeigte sich, dass bei passionierten Videospielern bestimmte Hirnstrukturen stärker ausgeprägt sind als bei Gelegenheitsspielern.
10 000 Stunden vor der Konsole bald auf Rezept?
Hochrechnungen zufolge haben junge Menschen bis zu ihrem 21. Lebensjahr 10 000 Stunden mit Videospielen zugebracht. Zum Vergleich: Um einen Bachelor-Abschluss zu erreichen, sind schätzungsweise 4800 Stunden nötig – Vor- und Nachbereitung der Vorlesungen und Seminare mit eingeschlossen. Aufgrund der teils komplexen Anforderungen und der intensiven Betätigung während des Spielens sehen Forscher ein hohes Lernpotenzial, dass sich auch therapeutisch nutzen liesse.
Um herauszufinden, was Videospiele im Gehirn genau bewirken, durften gesunde Probanden zwei Monate lang "Super Mario 64" zocken. Dieses Spiel verlangt das Erkunden einer virtuellen dreidimensionalen Umgebung sowie eine intensive räumliche Navigation.
Eine strukturelle Magnetresonanztomographie vor und nach der Trainingsphase bewies, dass das Neuro-Volumen im Hippocampus, im präfrontalen Kortex und im Kleinhirn der Spieler zugenommen hatte.
Je mehr Spass die Probanden hatten, umso ausgeprägter fiel die Volumenzunahme im Hippocampus und im präfrontalen Kortex aus. Was den Kollegen besonders interessant erschien: Trainierte Gamer konnten auch nicht geübte Navigationsaufgaben besser meistern; es kam also im Gegensatz zum kognitiven Training zu einem Transfereffekt.
Die Hamburger Wissenschaftler sehen darin auch eine klinische Relevanz. Ihre Untersuchung zeige, dass zwei Hirnregionen plastisch verändert wurden, die bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen von Bedeutung sind. Dazu zählen z.B. Depression, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Alzheimer-Demenz oder Schizophrenie.
Effekte bei Patienten mit Schizophrenie?
Gelingt es, die neuronale Plastizität in den entsprechenden Regionen anzuregen, liesse sich vielleicht auch die klinische Symptomatik beeinflussen, so die Autoren. Erste Hinweise dafür gibt es bereits.
Derzeit untersuchen die Experten an schizophrenen Patienten, wie sich Videospiele auf die Hirnstruktur auswirken und ob sich dadurch die Positiv- bzw. Negativsymptomatik ändert.
Ausserdem hoffen sie, mit einem speziellen Videospieltraining auch Patienten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Substanzabhängigkeit) helfen zu können.
Quelle: Simone Kühn et al., Hamburger Ärzteblatt 2016; 70: 13-16