Medical Tribune
17. Juni 2015Instrumente zur Schmerzeinschätzung

Effektive Schmerztherapie erst nach Assessment

In einer US-Umfrage gaben fast 53 % der befragten älteren Probanden an, im vergangenen Monat unter beeinträchtigenden Schmerzen gelitten zu haben. Studien aus europäischen Ländern kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Jeder Zweite hat chronische Schmerzen

Chronische Schmerzen sind nicht nur ein lästiges sensorisches Problem, sie schränken auch die Mobilität ein, begünstigen Stürze, führen zu Schlafstörungen, Angst, Depression und Isolation. Alle älteren Patienten mit chronischen Schmerzen sollten ein sorgfältiges Schmerz-Assessment durchlaufen, schreiben Professor Dr. M. Carrington Reid vom Weill Cornell Medical College, New York, und Kollegen.

Dabei kann es hilfreich sein, standardisierte Instrumente zur Schmerzeinschätzung zu verwenden. In der Anamnese sollten nicht nur die genaue Schmerzlokalisation und -dauer erfragt werden, sondern auch mögliche Auswirkungen der Schmerzen auf das emotionale Befinden, Alltagsaktivitäten und Schlaf. Ausserdem gehören Fragen nach Bewältigungsstrategien, Ressourcen (Angehörige, Freunde) und Erwartungen an die Therapie zu einer umfassenden Schmerzanamnese.

Standard-Tests helfen bei der Schmerz-Bewertung

Bei der körperlichen Untersuchung älterer Schmerzpatienten gilt ein besonderes Augenmerk dem Bewegungsapparat (Entzündungszeichen?) und dem Nervensystem (Hinweise auf eine Neuropathie oder Muskelschwäche?). Zudem sollte man überprüfen, wie es um die körperliche Funktionalität bestellt ist und ob möglicherweise ein erhöhtes Sturzrisiko besteht. Ganggeschwindigkeit und Gleichgewichtstests geben hier erste Hinweise.

Eine diagnostische Abklärung mithilfe bildgebender Verfahren ist gerechtfertigt, wenn bei der körperlichen Untersuchung Befunde auffallen, die auf eine spezifische Schmerzursache hinweisen. Oder aber, wenn Warnzeichen vorliegen wie z.B. Schmerzzunahme bei Krebspatienten, Faktoren, die eine Infektion begünstigen (Immunsuppression, Injektionsbehandlung), oder unbeabsichtigter Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit bzw. Fieber.

Was ältere Schmerzpatienten stützt
Eine Einbindung von Angehörigen bei bestimmten Massnahmen wie z.B. der kognitiven Verhaltenstherapie oder beim Selbstmanagement-Training kann sinnvoll sein.

 

Die Autoren weisen auch darauf hin, wie hilfreich Hausbesuche bei älteren Patienten sind: Für den Arzt kann es sehr aufschlussreich sein, den Patienten in seiner häuslichen Umgebung zu erleben.

Die meisten Patienten finden es sehr beruhigend, von einem Arzt betreut zu werden, der im Bedarfsfall zu ihnen nach Hause kommt. Auf jeden Fall stärken Hausbesuche die Arzt-Patienten-Beziehung.

Mit den Schmerzen steigt das Sturzrisiko

Das Schmerzmanagement bei Senioren kann durchaus komplex sein. Oft besteht eine Mischung aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen oder es liegen Begleiterkrankungen vor, die die Behandlungsmöglichkeiten einschränken. Hinzu kommen altersassoziierte physiologische Veränderungen wie eingeschränkte Absorption und renale Ausscheidung von Medikamenten oder sensorische und kognitive Störungen.

Bei der Erstellung des Therapieplans sollten medikamentöse und nicht medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten erwogen und auch an häufige Folgen chronischer Schmerzen wie etwa Depression, Isolation und körperliche Behinderung gedacht werden. Für die medikamentöse Therapie raten die Autoren zum Einsatz von Kombinationen, weil damit im Vergleich zu einer höher dosierten Monotherapie oft ein besserer analgetischer Effekt bei geringerer Toxizität erzielt werden kann.

Gealterter Metabolismus erschwert die Schmerzmedikation

Wegen seines günstigen Sicherheitsprofils raten die Kollegen bei älteren Patienten mit leichten bis mässigen Schmerzen bevorzugt zu Paracetamol. Signifikante kardiovaskuläre, renale oder gastrointestinale Nebenwirkungen sind darunter nicht zu befürchten. Anders ist das bei den NSAR, deren gastrointestinale, kardiovaskuläre und renale Risiken gerade bei älteren Patienten zum Tragen kommen.

Bei kardiovaskulären Risikofaktoren eignet sich noch am ehesten Naproxen. Unternimmt man einen Behandlungsversuch mit NSAR, sollte sich der Patient innerhalb von zwei Wochen erneut in der Praxis vorstellen, um Therapieerfolge und eventuelle Nebenwirkungen zu erfassen und Blutdruck und Nierenwerte zu überprüfen. Die im Allgemeinen gut verträglichen topischen NSAR kommen insbesondere für Patienten mit umschriebenen Schmerzen infrage.

NSAR nur bedingt geeignet - zu viele Risikofaktoren

Der Einsatz von Opioiden kann erwogen werden, wenn Senioren auf andere Therapien nicht angesprochen haben oder wenn trotz Behandlung eine gravierende funktionelle Einschränkung besteht. Die kurzfristige (≤ 12 Wochen) Gabe hat sich bei älteren Patienten als wirksam erwiesen.

Bei einem Opioid-Behandlungsversuch erfolgt während der Dosistitrationsphase die Überprüfung des Therapieziels alle zwei Wochen. Bleibt der Erfolg aus, sollte das Medikament ausgeschlichen und abgesetzt werden. Übungsprogramme für Senio­ren mit chronischen Schmerzen gehören zum festen Bestandteil des Therapiekonzepts.

Verhaltenstherapie als wirksame Alternative

Darüber hinaus sind psychologische Interventionen wie die kognitive Verhaltenstherapie bei älteren Schmerzpatienten vielversprechend. Die Autoren halten zudem die Teilnahme an Selbstmanagement-Programmen für sinnvoll, auch wenn die Studienlage hierzu nicht eindeutig ist.

Quelle: M. Carrington Reid et al., BMJ 2015; 350: online first; doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.h532