Medical Tribune
14. Nov. 2023Was tun im pädiatrischen Notfall?

Kindern den Arztbesuch erleichtern

Unkooperative Patienten stehen in der Pädiatrie an der Tagesordnung. Das ist bedingt durch normale Reflexe und Entwicklung, sagt Dr. Michel Ramser, Universitäts-Kinderspital beider Basel. Der Experte gibt Tipps, wie es gelingen kann, Kinder in körperlichen und seelischen Ausnahmesituationen so gut wie möglich zu behandeln.

Mit kleinen Kniffen kann es gelingen, Kindern medizinische Prozeduren und Arztbesuche zu erleichtern.
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«Kinder kommen nicht gerne zu uns, das ist leider so» sagt Dr. Michel Ramser, Leiter der interdisziplinären Notfallstation des Universitäts-Kinderspital beider Basel gleich zu Anfang seines Vortrages im Zuge der FomF Hausarzt-Fortbildungstage (1).

Damit es Ärzten und Pflegern gelingt, Kinder bei einer medizinischen Prozedur trotzdem zur bestmöglichen Mitarbeit zu bewegen, braucht es seiner Meinung nach vor allem Zeit. Zeit, vor allem um einen Zugang zum Kind und zu seinen Eltern herzustellen. Diese Zeit ist im stressigen Praxis- und Klinikalltag aber meist nicht vorhanden, räumt der Experte ein. «Umso wichtiger ist es, sich einen Spielraum zu schaffen, um die Kooperation des Gegenübers zu erarbeiten.»

Zuerst die Schmerzen behandeln

Das beginnt bei der Schmerzbehandlung. Unter den häufigsten Ursachen rangieren dabei bei Kindern traumatisch bedingte Schmerzen sowie Kopf-, Bauch-, oder Ohrenschmerzen.

Schmerzen sind eine wichtige Ursache dafür, dass Kinder sich beim Arzt verweigern, erklärt Dr. Ramser. Die mangelnde Kooperation der schmerzgeplagten Kinder liege dabei am – physiologischen – Flucht-oder-Kampf-Reflex. «Sinnvollerweise müsste man diesen Reflex vor der Behandlung abwarten. Das ist im Alltag aber leider nicht immer möglich.»

Um sich dennoch den nötigen Handlungsspielraum zu verschaffen, empfiehlt er, mässige und schwere Schmerzen sofort nach Eintreffen des Kindes zu behandeln – etwa bereits bei der Triage. «Mitarbeiter der Pflege wenden bei uns NSAR und Paracetamol sofort bei der Triage an. Nach ärztlicher Rücksprache auch Antiemetika oder topische Anästhetika und nasale Analgetika.»

Fühlen sich Kinder bei der Aufnahme schlecht, entspannen sie sich oft nach Gabe der Wirkstoffe im Wartebereich, wenn Schmerzen oder Übelkeit nachlassen

Bei der Einschätzung der Schmerzintensität verlässt sich der Experte bei Kindern, die bereits kommunizieren können, auf deren Selbsteinschätzung. Jüngeren Kindern kann zur Mitteilung des Schmerzempfindens eine Visualisierung des Schmerzempfindens mit abgestuft schmerzgeplagten Gesichtern helfen.

Bei ganz jungen Kindern kann über Gesichtsausdruck, Motorik, Bein- und Rumpfhaltung, Weinen ein Rückschluss auf das Schmerzempfinden gezogen werden (Bsp. Kindliche Unbehagens - und Schmerzskala [KUSS])

Den Arztbesuch möglichst positiv gestalten

Schmerzen verstärken sich oft bei einem Arztbesuch noch zusätzlich dadurch, dass Kinder starke negative Gefühle wie Angst, Kummer und Wut durchleben. Es gilt daher, das Setting der Behandlung möglichst ruhig zu gestalten, und die Eltern gut darin einzubinden. «Dann verbessert sich auch die Compliance, und allfällige Sedativa oder Analgosedativa wirken besser – mit positiven Auswirkungen auf den gesamten Outcome.»

Bei einer positiven Behandlungsumgebung spielt etwa die Sprache eine Rolle, die im Zuge der Konsultation verwendet wird. «Vorschulkinder sind noch nicht in der Lage, rational zu denken. Stattdessen verfügen sie über ein magisches Denken. Darum empfinden sie eine medizinische Intervention als Bestrafung, etwa für ein Fehlverhalten, das zu einem Unfall geführt hat», sagt Dr. Ramser. Aussagen der Eltern, wie «Mach mit, sonst gibt dir der Arzt eine Spritze» seien daher keine grosse Hilfe.

Aber auch die oft typische Sprache von Ärzteseite, wie etwa «Sag mir, wann du bereit bist (einen Schmerz zu empfinden)», was dem Kind zu viel Verantwortung zuschiebt, oder vage Formulierungen wie «Wir machen jetzt das Blut» seien wenig zielführend, genauso wie, das Kind anzulügen. Viele Kinder würde man hingegen gewinnen, indem man ihnen den Prozess erklärt. («Ich mache erst einmal gar nichts, und dann erkläre ich dir, bevor ich etwas tue, jeden einzelnen Schritt.»)

Mit dem gezielten Einsatz von Sprache, um die Atmosphäre während einer medizinischen Prozedur zu entspannen, hat sich vor einigen Jahren auch eine Arbeit auseinandergesetzt (2, siehe Tabelle).

Kinder mit Sprache stark machen

Eine Übersichtsarbeit (Krauss et al. Lancet 2016) hat sich damit beschäftigt, wie eine gezielte Verwendung von Sprache Kinder bei einer Prozedur entlasten, und ihnen Angst nehmen kann. Hier einige Beispiele:

Sprache, die man vermeiden sollteSprache, die man verwenden sollte
Alles ist ok, keine Sorge! (Beruhigung)Was hast du heute in der Schule gemacht? (Ablenkung)
Das wird wehtun/das wird nicht wehtun (vage; negativer Fokus)Es fühlt sich vielleicht wie ein Zwicken an (sensorische Information)
Ich werde dir jetzt etwas Blut abnehmen. (vage Informationen)Zuerst reinige ich deinen Arm. Dabei spürst du den kalten Tupfer, und dann… (sensorische und auf das Verfahren bezogene Information)  
Du benimmst dich wie ein Baby (Kritik)Um dich auf andere Gedanken zu bringen: Erzähl mir einmal von dem Film… (Ablenkung)
Es wird sich wie ein Bienenstich anfühlen (negativer Fokus)Sag mir, wie es sich anfühlt (Information)
Das Verfahren dauert so lange wie... (negativer Fokus)Das Verfahren wird kürzer sein als... (Fernsehsendung Fernsehsendung oder andere vertraute Zeit für das Kind) (Informationen zum Verfahren; positiver Fokus)
Die Medizin wird brennen (negativer Fokus)Einige Kinder sagen, dass es sich warm anfühlt (sensorische Informationen; positiver Fokus)
Sag mir, wenn du bereit bist (zu viel Kontrolle)Wenn ich bis drei gezählt habe, puste das Gefühl aus deinem Körper (Coaching zur Bewältigung; Ablenkung begrenzte Kontrolle)
Es tut mir leid (entschuldigt sich)Du bist sehr tapfer (Lob; Ermutigung)
Nicht weinen (negativer Fokus)Das war schwer; ich bin stolz auf dich (Lob)
Es ist vorbei (negativer Fokus)Das mit dem tiefen Atmen und Stillhalten hast du gut gemacht  (Lob für bestimmte Handlung)

In jedem Fall tun Ärzte und Pfleger nicht nur dem Kind und den Eltern, sondern auch den nächsten medizinischen Zuständigen einen Gefallen, wenn das Kind eine Prozedur so positiv wie möglich erlebt, sagt Dr. Ramser: «Jeder ist froh, wenn sich das Kind nicht schon mit einer Vortraumatisierung in der Praxis oder im Spital vorstellt.»

Nur Notwendiges machen

Um dem Kind unnötige Schmerzen und Unannehmlichkeiten zu ersparen, sollten sich Mediziner zudem vor jeder Prozedur klar werden, ob diese wirklich notwendig ist. Bei Fehlen von klaren Grenzwerten oder Handlungsempfehlungen wäre es beispielsweise oft sinnvoller, eine Blutabnahme, Bildgebung oder Intervention erst gar nicht durchzuführen. «Ein Beispiel ist die Tonsillitis. Einen Rachenabstrich auf Streptokokken machen wir dabei etwa ohne das Vorliegen der nötigen Centor-Kriterien erst gar nicht.» Genauso wichtig sei es, im Vorfeld bereits klarzumachen, dass ein vorliegender Befund auch eine Konsequenz hat: «Machen wir einen Abstrich und ist dieser positiv, wird auch behandelt.»

Seit Jahren seien Initiativen im Gange, die die medizinische Überbehandlung in der Pädiatrie einbremsen sollen, so Dr. Ramser (z.B. das «2021 Update on Pediatric Overuse» (3), oder die «Smarter Medicine: Choosing Wisely»-Initiative (4) in der Schweiz). «Das ist auch eine gute Information für Eltern, die mit fordernder Haltung nach einem Hustenmittel oder Sedativum fragen.»

Ablenken, sanft lagern, oder visuell stimulieren

Eltern spielen eine Schlüsselrolle bei der Behandlung ihres Kindes. Dr. Ramser berichtet, dass die Beruhigung eines Kindes bei einer Intervention am besten in drei Varianten gelingen kann. Bei der ersten ist etwa die Ablenkung Trumpf. Dabei sollten die Eltern Kinder mit einem abwechslungsreichen Spiel oder Gespräch beschäftigen. Die Kinder sollten dabei die ganze Zeit aktiv sein.

Bei anderen Kindern funktioniert hingegen Kuscheln besser. Bei der sogenannten Comfort-Lagerung nimmt das Kind maximale Nähe zu einem Elternteil ein, während es behandelt wird. Säuglinge können währenddessen auch oft gestillt werden.

Als dritte Variante hilft  oft –wenn nichts anderes funktioniert – ein visueller Stimulus – also, Kindern etwa Fotos oder Trickfilme auf dem Handy oder Computerbildschirm zu zeigen. «Das muss man aber mit den Eltern abstimmen».

Buzzy lenkt Kinder bei Spritzen ab

Die australische Kinderärztin Dr. Amy Baxter machte vor einigen Jahren eine Erfindung: Bei BUZZY handelt es sich um eine vibrierende Biene, die mit einem Kühlakku versetzt wird. Sie kann man oberhalb der Punktionsstelle ansetzen – durch den Kühlungs- und Vibrationseffekt wird die distale Nervenleitung geblockt, sodass Schmerzen von einer Injektion oder Blutabnahme entschärft werden.