Medical Tribune
2. Sept. 2023Therapeutische Zwickmühle

Migräne: Hormonbehandlung steigert kardiovaskuläres Risiko

Als Ursache der menstruellen Migräne gelten schwankende Östrogenspiegel. Mit hormonellen Kontrazeptiva könnte man gegensteuern. Doch erhöhen diese bei bestimmten Patientinnen die Schlaganfall-Gefahr drastisch, weshalb die Indikation streng zu stellen ist.

Migräne lässt sich mit Hormonen gut behandeln. Doch diese haben auch Nebenwirkungen.
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Mehr als jede zweite Frau mit Migräne beobachtet einen Zusammenhang zwischen den Attacken und dem Zyklusgeschehen. Eine rein menstruelle Migräne haben sieben bis 14 Prozent der Patientinnen. Sie liegt dann vor, wenn die Attacken ausschliesslich zwei Tage vor bis drei Tage nach der Periode und mindestens während zwei von drei Zyklen auftreten. Bei der menstruationsassoziierten Form kommen weitere Attacken zu anderen Zeitpunkten hinzu.

Den komplexen hormonellen Schwankungen während des weiblichen Zyklus, insbesondere dem Östrogenabfall in der späten Luteal­phase, schreibt man eine ursächliche Bedeutung zu, berichten Professor Dr. Hartmut ­Göbel von der Schmerzklinik Kiel und Kollegen (1). Aber auch der Entzug von exogenen Gestagenen – sowohl bei zyklischen Formen der Hormonersatztherapie als auch im Rahmen einer kombinierten oralen Kontrazeption – kann die Anfälle auslösen.

CGRP-Antikörper beugen Migräne-Attacken vor

Man nimmt an, dass der Migräne pathophysiologisch eine erhöhte nozizeptive Aktivität des trigemino­vaskulären Systems zugrunde liegt. Diese führt dann zu einer Dilatation intrakranieller Gefässe und zu einer meningealen Inflammation. Als entscheidender Mechanismus in der Genese von Migräne-Attacken wird heute die Freisetzung des Neuropeptids CGRP (calcitonin gene-related peptide) betrachtet. Triptane blockieren diesen Vorgang und stoppen damit akute Attacken. Prophylaktisch haben sich CGRP-Antikörper als wirksam erwiesen. An der neuro­genen Entzündung ist ausserdem das vasoaktive Peptid Substanz P beteiligt­.

Östrogen reduziert sowohl den CGRP- als auch den Substanz-P-Spiegel und wirkt damit protektiv gegen die neurogene Entzündung. Der aktivierende Effekt von Pro­gesteron auf die beiden Peptide wird durch Östrogen gehemmt. Von einer Kombination der beiden Hormone zu therapeutischen Zwecken kann man deshalb eine stabilisierende Wirkung auf die Freisetzung von CGRP und Substanz P erwarten.

Östrogen wirkt auf GABA und endogene Schmerzdämpfung

Östrogen kann aufgrund seiner modulierenden Eigenschaften auf andere Einflussgrössen auch indirekt antinozizeptiv wirken und auf diese Weise die Migräne-Anfälligkeit herabsetzen. Dazu gehören die Aktivierung des serotonergen und des inhibitorischen Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Systems ebenso wie die Stimulation der endogenen Opioid- und Oxytocin-Produktion.

Dies könnte erklären, warum niedrige Östrogenspiegel in der späten Lutealphase die Schmerzempfindlichkeit steigern. Untersuchungen in verschiedenen Zyklusphasen bestätigen die Annahme. Zudem wurde bei Frauen, die unter menstrueller Migräne leiden und eine kombinierte hormonelle Kontrazeption erhalten, eine erniedrig­te Schmerzschwelle in der hormonfreien Phase beobachtet.

Östrogen-Gabe mit Pflaster, Gel oder per Implantat

Therapeutisches Ziel bei menstrueller Migräne könnte demnach sein, den Östrogenabfall in der späten Luteal­phase abzuschwächen. Dies lässt sich durch verschiedene Schemata kombinierter oraler Kontrazeptiva unter Einschluss von Ethinylestradiol erreichen. Sofern keine Kontrazeption erwünscht ist, könnte man Östrogen in der kritischen Phase mittels transdermaler Pflaster, Gelen oder subkutaner Implantate zuführen. Die Datenlage für die hormonellen Optionen ist insgesamt jedoch sehr dünn.

In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) wird zur Kurzzeitprophylaxe der menstruellen Migräne vor allem das langwirksame NSAR Naproxen (Halbwertzeit 12–15 h) oder ein Triptan mit langer Halbwertszeit empfohlen. Die Einnahme sollte die Patientin zwei Tage vor der erwarteten Menst­ruation beginnen und für fünf oder sechs Tage fortsetzen.

Vorbeugend kann zusätzlich die kontinuierliche Gabe eines kombinierten oralen Kontrazeptivums erwogen werden, um die Zahl der Zyklen zu reduzieren. Zur perkutanen Gabe von Östrogen raten die Leitlinien-Autoren nicht, vor allem weil nach dem Absetzen verzögerte Migräne-Attacken zu befürchten sind.

Schlaganfall-Risiko besonders bei Migräne mit Aura erhöht

Die Hormongabe kann jedoch das Schlaganfall-Risiko steigern, das insbesondere bei Migräne mit Aura ohnehin erhöht ist. Literaturrecherchen zufolge beträgt das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall bei Frauen ohne Migräne 2,5 / 100 000 pro Jahr, wenn keine hormonelle Kontrazeption erfolgt. Verhüten diese Frauen hormonell, steigt ihr Risiko auf 6,3 / 100 000.

Noch deutlicher zeigt sich der Einfluss der zugeführten Hormone bei Migräne-Patientinnen: Ohne Aura beläuft sich ihr Herz-Kreislauf-Risiko auf 4,0 / 100.000, unter hormoneller Kontra­zeption steigt es auf 25,4 / 100.000 an. Migräne inklusive Aura ist assoziiert mit einem Risiko von 5,9 / 100.000, durch eine Hormon-Gabe erhöht es sich auf 36,9 / 100.000.

Experten verschiedener europäischer Fachgesellschaften haben auf Basis dieser Zahlen unter anderem folgenden Konsens gefunden: Vor der Verordnung kombinierter oraler Kontrazeptiva sollte man die Migräne genau charakterisieren und vaskuläre Risikofaktoren erfassen. Grundsätzlich ist eine Formulierung mit niedrigem Östrogen-Anteil (< 35 µg Ethinylestradiol) oder ein reines Gestagen-Präparat zu wählen.

Bei Migräne mit Aura sollten gar keine kombinierten Präparate verwendet werden. Das Gleiche gilt bei Migräne ohne Aura und gleichzeitig vorliegenden weiteren Risikofaktoren. Zur Verhütung ist es für diese Frauen ratsam, auf nicht­hormonelle Methoden auszuweichen.