Bei Problemen der Vulva immer die ganze Geschichte anhören
Ausfluss oder Blutungen bei Kindern, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr bei erwachsenen Frauen – alles Themen, die oft die persönliche Schamgrenze überschreiten. Entsprechend sensibel sollten Gynäkologen vorgehen.
Am Jahreskongress der gynécologie suisse 2022 fassten Experten zusammen, wie Anomalien der Vulva im Kindheitsalter sich manifestieren. Ausserdem gab es Updates zum Tabuthema Dyspareunie, und wie bei der Diagnostik und der Behandlung der Vulvodynie vozugehen ist.
Traktion ist die Standardmethode bei der Untersuchung pädiatrischer Patientinnen
Dr. Francesca Navratil ist eine Pionierin der Kinder- und Jugendgynäkologie. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten im In- und Ausland. Am Jahreskongress der gynécologie suisse 2022 erörterte sie die wichtigsten Erkrankungen der kindlichen Vulva und erklärte die Besonderheiten der gynäkologischen Untersuchung bei Mädchen und jungen Frauen. «Die anogenitale Inspektion soll bei Neugeborenen nach der Geburt sowie auch bei Routineuntersuchungen des Pädiaters mindestens zweimal durchgeführt werden. So können frühzeitig etwaige Krankheiten oder Missbildungen erkannt und behandelt werden», führt sie aus.
Die Untersuchungstechnik mittels Separation reicht dabei zwar zur äusserlichen Inspektion der Vulva und Vagina. Allein mittels Separation ist jedoch zum Beispiel das gemeinsame Mündungsgebiet von Urethra und Scheide, das Vestibulum vaginae, nicht sichtbar. Dr. Navratil, die in den achtziger Jahren am Kinderspital Zürich die Kinder- und Jugendgynäkologie aufgebaut hat, betont, wie wichtig die labiale Traktion ist, also das leichte Ziehen an den grossen Labien, um einen besseren Einblick zu ermöglichen. «Mittels Traktion sieht man alles was man sehen muss, auch das Vestibulum mit Hymen.»
Dr. Navratil beleuchtete einen Fall, bei welchem ein Verdacht auf Hymenalatresie bestand. Bei richtiger Traktion war eindeutig eine Öffnung zu sehen. Auch eine Vulvitis ist ein häufiges Krankheitsbild – im Gegensatz zur Vulvovaginitis fehlt jedoch ein Ausfluss. Auch hier muss leider immer an sexuellen Missbrauch gedacht werden. Lichen sklerosus vulvae verursacht hingegen Juckreiz - durch das Kratzen kann es jedoch zu Blutungen kommen.
Handspiegel als kommunikatorisches Hilfsmittel
Auch bei der Detektion von Unterschieden in der sexuellen Entwicklung, den Differences of Sexual Development (DSD), welche immerhin bei einem von 5.000 Kindern vorkommen, kann die Traktion weiterhelfen.
Zur Patientenkommunikation kann ein Handspiegel hilfreich sein, den der Arzt oder die Ärztin dem Kind als Hilfsmittel gibt. Anschliessend soll das Gesehene mit dem Kind aktiv besprochen werden. Mit der Separation ist auch hier nicht alles sichtbar, eine vorsichtige Traktion ist daher auch hier empfohlen
In der gynäkologisch-pädiatrischen Sprechstunde stehen unter anderem Ausfluss oder Blutungen an der Tagesordnung. Bei Ausfluss sollte eine gute Untersuchung auf Fremdkörper stattfinden. Bei Blut muss der Gynäkologe auch immer den sexuellen Missbrauch vermuten. Häufigste Diagnosen in der Jugend- und Kindergynäkologie sind die Vulvovaginitis oder Fremdkörper, aber auch dermatologische Probleme kommen vor. Ferner können Zysten, Tumore wie das Rhabdomyosarkom, Verklebungen der Labien oder Missbildungen Grund zur Konsultation sein.
Dyspareunie als grosses Tabuthema
Dr. Martine Jacot-Guillarmod, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe am CHUV Lausanne, sprach in ihrem Vortrag über das Tabuthema Dyspareunie. Diese manifestiert sich durch Schmerzen während der Penetration beim Geschlechtsverkehr. Obwohl die Dyspareunie keineswegs eine Seltenheit ist, suchen 40 bis 49 Prozent der Frauen mit chronischen Schmerzen der Vulva keine medizinische Hilfe. Die Ätiologie kann multifaktoriell bedingt und sehr komplex sein – körperliche, psychische und emotionale Faktoren sind entscheidend daran beteiligt. Dr. Jacot-Guillarmod erklärt, dass aber auch rein somatische Ursachen wie der Lichen sklerosus, der Lichen planus oder auch die Plasmazell-Vulvitis ursächlich sein können.
Eine spezifische Form der Dyspareunie ist die Vulvodynie («Schmerzen in der Schamgegend»), die sich meist durch einen Dauerschmerz an Schamlippen oder Damm äussert. Bei der Diagnose unterschiedet man zwischen der provozierten Vulvodynie (PVD – Schmerzen bei Berührung), die häufiger bei jüngeren Patientinnen vorkommt, und die generalisierte Vulvodynie (GVD – spontane Schmerzen), die sich vor allem bei menopausalen Patientinnen findet. Unter 50 Jahren ist die Vulvodynie die häufigste Form der Dyspareunie.
Eine sekundäre Vulvodynie deutet oft auf eine Entzündung hin
Ferner ist die Unterscheidung zu treffen, ob die Vulvodynie primär oder sekundär besteht: Die primäre Vulvodynie zeigt sich bereits beim ersten Versuch einer Penetration, oder durch intolerable Schmerzen, wenn ein Tampon oder Cup oder Spekulum eingeführt werden soll. Die sekundäre Vulvodynie tritt nach einer Phase harmonischer sexueller Beziehungen ohne Schmerzen oder problemlosen Gebrauch von Tampons oder der Spekulumuntersuchung auf. Bei der sekundären Vulvodynie können normalerweise Ursachen identifiziert werden, beispielsweise eine Infektion, Entzündungen, ein Lichen sklerosus oder planus, Neoplasien, neurologische Ursachen, Traumata, iatrogen verursachte Verletzungen (Operationen oder Bestrahlung) oder ein Mangel an Hormonen. Bei der primären Vulvodynie kann hingegen häufig keine klare Ursache gefunden werden, sie dauert per Definition mehr als drei Monate.
Die pathophysiologischen Mechanismen sind vermutlich komplex, neben bestimmten Auslösern wie rezidivierende Infekte, Geburtsverletzungen, hormonelle Veränderungen in der Menopause oder dermatologischen Erkrankungen vermutet man auch psychische Ursachen. In der Forschung wird aktuell auch eine Rolle der Gene diskutiert. Diese somatische Dysfunktion hat oft einen Teufelskreis zur Folge – Patientinnen entwickelten ein reduziertes Selbstwertgefühl.
«Tell me your Story» - sich Zeit nehmen für eine vollständige Anamnese
Nicht selten lassen sich die Beschwerden aber erst durch die gezielte Anamnese erkennen und besprechen. Wichtig ist, dass Gynäkologen sich Zeit nehmen für die ganzheitliche Geschichte der Patientin. Schmerzcharakteristik, muskuloskelettale Ereignisse aber auch die urogenitale Anamnese, die sexuelle Anamnese, Fragen über die Kontrazeption, Emotionen und eine Beziehungsanamnese dürfen nicht fehlen.
Auch häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt oder ein Kindheitstrauma sollen angesprochen werden. Die körperliche Untersuchung beinhaltet eine generelle Inspektion der Vulva, sowie einen Q-Tip-Test/Wattestäbchentest. Auch nach vaginalen Infekten ist aktiv zu suchen und die Beckenboden-Muskeln sollten geprüft werden. Eine Spekulum-Untersuchung kann dann erfolgen, wenn sie von der Patientin toleriert wird. Zudem ist neurologisch eine Allodynie auszuschliessen.
Die Vulvodynie fordert eine multidisziplinäre Behandlungsstrategie
Die Behandlung besteht aus Physiotherapie, Beckenboden-Osteopathie und psychosozialen Interventionen wie Schmerzmanagement oder Sexualtherapie:
- Topische Therapien wie Lidocain sollten nur kurzfristig zur Anwendung kommen.
- Kortikosteroide sind nicht empfohlen.
- An Injektionen von Botulinumtoxin wird zurzeit geforscht.
- Neuromodulatoren wie Antikonvulsiva zeigten bisher keine Besserung der Schmerzen, eine Studie zeigte jedoch isoliert verbesserte Sexualfunktionen.
- Trizyklische Antidepressiva sind bisher nicht indiziert.
- Topische hormonelle Therapien zeigten eine Schmerzminderung.
- Die chirurgische Vestibulektomie kann als zweite Wahl in Erwägung gezogen werden, aber nur bei primärer Vulvodynie, und wenn alle anderen Therapien versagt haben. Es fehlen aber randomisierte Studien.