Medical Tribune
19. Sept. 2024Von Angststörung bis Zoster

Anfallssuppressiva: Vielseitige Anwendungen, komplexe Wechselwirkungen

Anfallssuppressiva können weit mehr als nur epileptische Anfälle unterdrücken. Sie eignen sich auch zur Behandlung neuropathischer Schmerzen und zur Migräneprophylaxe. Dabei muss man mögliche Neben- und Wechselwirkungen beachten.

Anfallssuppressiva dienen heute unter anderem zur Behandlung von Neuropathien und Migräne.
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Dank ihres breiten Wirkungsspektrums lassen sich Anfallssuppressiva bei vielen Störungen on- oder off-label einsetzen. So kann man bei Patienten mit mehreren Erkrankungen oft zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und Medikamente einsparen.

Bei Patienten mit quälenden Beschwerden und wenigen therapeutischen Alternativen sind diese Wirkstoffe oft eine gute Wahl, schreiben Professor Dr. Martina Hahn und Professor Dr. Sibylle Roll vom Varisano Klinikum Frankfurt Höchst in einer Übersichtsarbeit (1). Die Vielzahl der Nebenwirkungen erfordert jedoch ein sorgfältiges Monitoring.

Unterschiedliche Wirkmechanismen: Glutamaterge und GABAerge Synapsen

Man unterscheidet Anfallssuppressiva, die an glutamatergen Synapsen wirken, wie Carbamazepin, Pregabalin, Topiramat und Valproinsäure, von solchen, die auf GABAerge Synapsen wirken, wie Lorazepam und Diazepam. Erstere werden eher in der Schmerztherapie, als Stimmungsstabilisatoren oder zur Migräneprophylaxe eingesetzt. Letztere dienen vor allem als kurzzeitige Anxiolytika.

Wo hilft was?

Neuropathische Schmerzen

Gabapentin und Pregabalin sind hier führend. Sie modulieren Neurotransmitter und verringern so die Erregbarkeit der Nerven, was die Schmerzen lindert. Wegen unterschiedlicher Bioverfügbarkeit müssen sie unterschiedlich dosiert werden. Bei Patienten mit Drogenabhängigkeit, besonders von Opiaten, ist Vorsicht geboten: Gabapentinoide haben ein erhöhtes Abhängigkeitspotenzial.

Trigeminusneuralgie

Carbamazepin (1200 mg/d) und Phenytoin sind erste Wahl zur Schmerzlinderung. Phenytoin wird jedoch wegen seiner engen therapeutischen Breite und seines Nebenwirkungsspektrums seltener eingesetzt. Gabapentin und Pregabalin sind Mittel der zweiten Wahl, haben aber ein günstigeres Interaktionspotenzial.

Post-Zoster-Neuralgie

Bleiben Schmerzen nach einer Gürtelrose länger als drei Monate, spricht man von einer Post-Zoster-Neuralgie. Sie entsteht durch Entzündungen von Nervenganglien. Pregabalin und Gabapentin können helfen, indem sie die Glutamatausschüttung hemmen und antiinflammatorisch wirken.

Fibromyalgie

Auch bei dieser weitgehend unerforschten Erkrankung können Pregabalin und Gabapentin die Schmerzen lindern. Die Evidenz für Pregabalin ist dabei besser.

Prophylaxe von Migräne und Clusterkopfschmerz

Valproinsäure und Topiramat dienen der Migräneprophylaxe. Da sie erst nach zweimonatiger Einnahme wirken, eignen sie sich nicht zur Akuttherapie von Migräneattacken. Topiramat kann zudem als Mittel der zweiten Wahl (nach Verapamil) zur Vorbeugung von Clusterkopfschmerzen eingesetzt werden.

Restless-Legs-Syndrom

Gabapentin wirkt beim RLS in einer Dosierung von 800–1800 mg/d, aufgeteilt in mehrere Einzeldosen. Pregabalin wird einmal täglich (150–450 mg) ein bis drei Stunden vor dem Schlafengehen eingenommen.

Gewichtsreduktion

Topiramat kann das Körpergewicht senken und wird besonders für Patienten mit Schizophrenie empfohlen. Es wirkt hauptsächlich durch Appetitminderung und schnelleres Sättigungsgefühl. Zudem verbessert es die Thermoregulation, was den Energieverbrauch erhöht, und reduziert die Fettspeicherung.

Menopausale Beschwerden

Gabapentin kann als Alternative zur klassischen Hormontherapie Hitzewallungen lindern. Die wirksame Dosis liegt bei 900 mg/d. Es eignet sich für Frauen in der Menopause und unter Tamoxifen-Therapie sowie für Männer unter Hormondeprivation wegen Prostatakarzinom.

Psychiatrische Erkrankungen

Benzodiazepine (Diazepam, Clonazepam) wirken angstlösend, sollten aber wegen ihres Abhängigkeitspotenzials nur in Notfällen eingesetzt werden. Pregabalin wird bei generalisierten Angsterkrankungen empfohlen und scheint besser zu wirken und verträglicher zu sein als SSRI.

Bei bipolaren Erkrankungen können Valproinsäure und Carbamazepin manische Phasen günstig beeinflussen. Bei akuter Depression wird davon abgeraten. Lamotrigin ist eine Option zur Phasenprophylaxe. Patienten mit Impulskontrollstörungen bei Intelligenzminderung profitieren von Valproinsäure und Topiramat. Bei sozialer Phobie kann Pregabalin helfen.

Nebenwirkungen und Monitoring: Zentrale Effekte und Wechselwirkungen beachten

Zu den häufigen Nebenwirkungen der Anfallssuppressiva gehören zentrale Begleiterscheinungen wie Somnolenz, Sedierung, Schwindel, Schläfrigkeit, Ataxie und Verwirrtheit. Dadurch kann die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt werden. Unter den meisten Wirkstoffen sind regelmässige Kontrollen von Leberenzymen und Blutbild erforderlich. Bei Gabapentin, Topiramat, Pregabalin und Levetiracetam muss man die Nierenfunktion überwachen, bei Valproinsäure den Ammoniakspiegel.

Bei der Einnahme von Valproinsäure und Topiramat ist eine sichere Kontrazeption notwendig, da diese Substanzen teratogen sind. Viele Antikonvulsiva beeinflussen verschiedene Cytochrom-P450-Enzyme. Daher muss man bei Co-Medikation immer auf mögliche pharmakokinetische Wechselwirkungen achten. Auch pharmakodynamische Interaktionen sind möglich, z.B. eine Hyponatriämie bei Kombination von Carbamazepin oder Valproinsäure mit Diuretika, ACE-Hemmern oder Sartanen.