Medical Tribune
29. März 2024Ein Sepsis-Programm bringt Qualitätsverbesserung

Auch in der Schweiz sterben immer noch Kinder an Sepsis

Das frühzeitige Erkennen und Behandeln einer Sepsis hilft, Todesfälle zu vermeiden. Worauf bei Kindern mit vermeintlich harmlosen Infekten zu achten ist und wie das Sepsis-Management in der Schweiz generell verbessert werden kann, zeigt Professor Dr. Luregn Schlapbach, Chefarzt Intensivmedizin & Neonatologie am Universitäts-Kinderspital Zürich, auf.

Streptokokken
Science Photo Library/ Gschmeissner, Steve
Häufig findet man bei ­Kindern mit Sepsis Infek­tionen mit Streptokokken der Gruppe A. (rasterelek­tronenmikroskopisches Bild mit Erythrozyten)

Das Risiko für eine Sepsis ist in den ersten fünf Lebensjahren am höchsten und bleibt ab der Adoleszenz bis ins hohe Alter in etwa gleich.

In der Schweiz geht man über alle Altersgruppen jährlich von ungefähr 20 000 Sepsis- und 3500 Todesfällen aus. «Das ist mehr als bei den meisten Krebsarten», erklärt Prof. Schlapbach.­ Die Medien berichten jedoch kaum darüber.

Bei vielen Kindern übersieht der Arzt die Sepsis

Bei der Sepsis handelt es sich um eine Erkrankung, deren Todesfälle sich zum Teil verhindern lassen. Die Erfahrung aus anderen Ländern belegt, dass viele Kinder, die an einer Sepsis versterben, Tage zuvor auf einer Notfallstation oder beim Hausarzt waren und wieder nach Hause geschickt wurden.

Die Erkrankung verursacht dabei sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Langzeitfolgen. Kinder leiden etwa zum Teil an kognitiven Beeinträchtigungen, Schlafstörungen und physischen Einschränkungen. Anders als nach einem Schlaganfall werden die kleinen Patienten nach einer Sepsis aber nicht automatisch zur Reha geschickt. «Und dies, obwohl eine Sepsis bei Kindern häufiger ist als ein Stroke», so der Referent. Hier ist ein Umdenken nötig. In der Schweiz verursacht die Krankheit mit jährlich geschätzt zwei Milliarden CHF sehr hohe direkte Gesundheitskosten.

Hierzulande liegt der Sepsis bei Kindern häufig eine Infektion mit Gruppe-A-Streptokokken, Pneumokokken oder Staphylokokken zugrunde. Die nationale Sepsis-Studie bei Kindern hat gezeigt, dass je ein Drittel der Fälle Früh-/Neugeborene, Kinder mit einer schweren chronischen Vorerkrankung und zuvor komplett gesunde Kinder betrifft.

Atmung, Kreislauf und Nervensystem

Eine Sepsis kann mit einem einfachen Infekt mit Schnupfen und Fieber beginnen. «Die grosse Schwierigkeit im Alltag besteht aber darin, genau den Punkt zu erkennen, an dem ein Infekt in eine Sepsis übergeht», betont Prof. Schlapbach. Forscher suchen weiterhin nach besseren Methoden zur Früherkennung. Auch das SIRS (systemisches inflammatorisches Antwortsyndrom) – Konzept reicht nicht, um zu beurteilen, wie krank ein Kind wirklich ist. Denn bei jedem Kind mit einem unkomplizierten Infekt besteht ein SIRS mit Tachykardie, Tachypnoe, abnormalen Leukozyten-Werten und einer abnormalen Temperatur.

Im Fokus stehen muss die Frage, ob ein Kind mit einem Infekt klinische Zeichen für die Entwicklung eines Organversagens aufweist, betont Prof. Schlapbach. Starke Hinweise darauf sind Atembeschwerden (z.B. Hypoxie, Tachypnoe) und Hinweise auf Schock (z.B. Tachykardie, verlängerte Rekapillarisations-Leitzeit und im Verlauf auch Hypotension) sowie Zeichen einer akuten Enzephalopathie (z.B. Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung).

Bei schwer kranken Kindern unverzüglich mit einer Katecholamininfusion starten

Besteht ein Verdacht, dass ein Kind ein Organversagen entwickeln könnte, muss das von den Guidelines empfohlene «Sepsis-Bundle» innert drei Stunden, bei einem Schock binnen einer Stunde umgesetzt werden.

Die wichtigsten ersten Massnahmen in der Praxis sind das Legen eines intravenösen/intraossären Zugangs, das Abnehmen von Blutkulturen, die Laktatmessung sowie die Gabe von Antibiotika und Flüssigkeit. Ein Laktatspiegel ab 2 mmol/l ist erhöht, ab 4 mmol/l ist er ein Warnzeichen. Bei schwer kranken Kindern soll laut Prof. Schlapbach unverzüglich auch mit Katecholamininfusion via peripherer Leitung begonnen werden. «Es ist noch kein Kind gestorben wegen einer zu frühen Adrenalin-Gabe».

«Wird eine beginnende Sepsis früher erkannt, werden auch Antibiotika besser eingesetzt», ist Prof. Schlapbach überzeugt. Ziel der Qualitätsverbesserung sei nicht, ungezielt Antibiotika zu verwenden, sondern frühzeitig die richtigen Kinder mit den richtigen Antibiotika in der richtigen Dosierung zu behandeln.

Zur Zeit findet international ein Umdenken statt bei der Gabe von hohen intravenösen Flüssigkeitsboli. Die meisten Kinder mit Sepsis sind nicht dehydriert und entsprechend wird ein restriktiverer Umgang mit Flüssigkeitsboli diskutiert.

Andere Länder sind der Schweiz voraus

«Um eine beginnende Sepsis besser zu erkennen, braucht es mehr Schulung von Ärzten, Pflegenden und Eltern», ist der Experte überzeugt. Denn fast alle Eltern, die ein Kind an eine Sepsis verloren haben, sagen im Nachhinein, sie hätten gespürt, dass mit dem Kind etwas nicht stimme. Zwei Fragen an die Eltern können hilfreich sein:

  1. Wie stark sorgen Sie sich um Ihr Kind?
  2. Was ist dieses Mal anders im Vergleich zum letzten Mal als Ihr Kind krank war?

Hinweise können z.B. Schläfrigkeit, kühle Hände oder Stossatmung sein.

40 % geringere Mortalität bei Sepsis-Programm in New York

In den USA werden in mehreren grossen Spitälern bereits seit einigen Jahren alle Kinder, die sich schlecht fühlen, systematisch auf eine Sepsis untersucht. Im Rahmen dieser Kampagnen liess sich die Sepsis­mortalität senken. «Seit der Einführung eines solchen Programms werden beispielsweise in New York deutlich mehr Kinder mit einer beginnenden Sepsis erkannt und behandelt, was sich direkt in einer um 40 Prozent geringeren Sterblichkeit niederschlug», so der Referent.

Ähnlich gute Erfolge machten die Australier mit der Einführung eines Aktionsplans. Dieser beinhaltet ein systematisches Sepsis-Screening, eine Guideline mit Standards zur Sepsis-Behandlung sowie die gezielte Schulung von medizinischem Fachpersonal und Eltern.

In diese Richtung muss in der Schweiz für eine Verbesserung des Sepsis-Managements gearbeitet werden, ist Prof. Schlapbach überzeugt. Erste Schritte sind eingeleitet. 2022 wurde ein Aktionsplan veröffentlicht und im Juli 2023 hat die Eidgenössische Qualitätskommission zehn Millionen Franken für ein Sepsis-Qualitäts-Verbesserungs-Programm bewilligt. Dieses soll in den nächsten Jahren umgesetzt werden.