Medical Tribune
15. Juli 2023Der Betreuungs- und Pflegebedarf in der Schweiz steigt

Dem Seniorendasein gelassen entgegensehen dürfen?

Professor Dr. Carlo Knöpfel, Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, berichtet über soziale Aspekte der Gesundheit – auch mit Blick auf die Alterseinsamkeit. Er präsentiert eine aktuelle Bilanz für die Schweiz und verweist auf zukunftsfähige Modelle für «Hilfe, Betreuung und Pflege».

Profilbild Prof. Carlo Knöpfel
zVg

Prof. Carlo Knöpfel, Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz

Wenn immer mehr Menschen immer älter werden, stellt das die Gesellschaft vor enorme Herausforderungen, auf die sich die politisch Verantwortlichen einstellen müssen.

Prof. Knöpfel erinnert daran, dass die WHO bereits vor 75 Jahren Gesundheit als Zustand des vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens definiert hat. Das ist ein hoher Anspruch. Je älter eine Person wird, je einsamer sie lebt und je weniger Ressourcen – materiell wie auch immateriell – sie zur Verfügung hat, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie sich einer guten Gesundheit erfreut.

Immerhin leben bereits heute zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung am Existenzminimum. Zudem sind 15,4 Prozent von Altersarmut betroffen und die Alterseinsamkeit greift um sich. Dabei müsse man zwischen Mangel an sozialem Wohlbefinden aus individueller und aus gesellschaftlicher Sicht unterscheiden. Zur individuellen Perspektive gehören dabei etwa fehlende Betreuung, Rückzug, Vereinsamung, oder der Wegfall sozialer Wertschätzung. Die gesellschaftliche Sicht machen dabei Altersarmut, unsichere Wohnsituation, und fehlende Partizipation am gesellschaftlichen Leben aus.

Herausforderung für die Generationenbeziehung

Die Schweiz rangiert unter den Top Ten der reichsten Länder der Welt. Trotzdem können Senioren von heute nicht alle unbeschwert in die Zukunft blicken. Immer mehr Menschen werden immer älter, mit deutlichem Anstieg an Hochbetagten. Das bedeutet, dass sich der Fragilisierungsprozess im «vierten Alter» verlängert, mit Phasen von Hilfebedürftigkeit, gefolgt von Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit.

Eine weitere besorgniserregende Entwicklung: Eine wachsende Zahl von Rentnerpaaren ist kinderlos. Aber auch die Familien werden kleiner und die räumliche Distanz zwischen den Generationen wächst. In Kombination mit einem unverkennbaren Trend zur Individualisierung und Selbstverwirklichung, zu Autonomie und Unabhängigkeit resultiert für die Generationenbeziehung eine zunehmende Herausforderung. Die Selbstverständlichkeit, mit der frühere Generationen (in erster Linie die Frauen) sich zur Betreuung und Pflege der Eltern verpflichtet fühlten, bröckelt zusehends.

Der politische Wandel hinkt hinterher

Die Betreuung im Alter wird zum politischen Dauerthema, doch zukunftsfähige Modelle lassen auf sich warten, nicht zuletzt aufgrund der Probleme mit der Finanzierung. Prof. Knöpfel verweist auf eine Prognose des Schweizer Gesundheitsobservatoriums OBSAN zur Anzahl der Pflegeheimbewohner 65+ bis zum Jahr 2040. Geht man von gleichbleibender Pflegedauer wie 2019 aus, muss mit einer Zunahme um knapp 70 Prozent gerechnet werden, was einem Bedarf an 921 zusätzlichen Pflegeheimen mit durchschnittlich 59 Betten entspricht.

Künftig wird es mehr noch als bisher an unbezahlten Betreuungsleistungen durch Familienangehörige fehlen und es droht eine Unterversorgung mit adäquaten Betreuungsangeboten – von der Spitex bis zu Pflegeheimen für vulnerable Hochbetagte. Betreuung als eigenständige Form der Unterstützung älterer Menschen – zwischen Hilfeleistung und Pflege – wird an Bedeutung gewinnen.

Diese Betreuung verfolgt drei übergeordnete Ziele: Selbstbestimmung im Alltag, psychosoziales Wohlbefinden und innere Sicherheit. Doch noch ist völlig unklar, wie eine «gute Betreuung im Alter für alle» gewährleistet und finanziert werden kann. Prof. Knöpfel­ ist dennoch davon überzeugt, dass diese «gute Betreuung im Alter für alle» alternativlos, machbar wie auch finanzierbar ist.