Medical Tribune
17. Mai 2023Wie sich Immundefekte äussern

Dauernd krank? «Bestimmen Sie die Immunglobuline!»

Eine Immunglobulin-Analyse kostet wenig, und kann das Leben von dauerkranken Menschen oftmals schlagartig ändern. Denn Immundefekte sind selten und fallen aufgrund ihrer unspezifischen Natur meist lange nicht auf. Prof. Dr. Arthur Helbling, Inselspital Bern, berichtet, welche Symptome auf einen Immundefekt hindeuten, und wie man Patienten – manchmal sogar einfach – helfen kann.

Prof. Arthur Helbling hat schon viele Patienten mit Immundefekten diagnostiziert.
zVg

Prof. Dr. Arthur Helbling hat schon oft erlebt, dass dauernd kranke Patienten sich etwa nach einer Pneumokokkenimpfung plötzlich wieder hervorragend fühlen.

Rund ein Viertel der Bevölkerung leidet im Laufe eines Jahres an Anzeichen einer Aeroallergie, sagt Prof. Dr. Arthur Helbling, Leitender Arzt der Poliklinik für Allergologie und klinische Immunologie am Inselspital Bern (1,2).

Es sei daher nicht verwunderlich, dass viele Menschen über einige Wochen im Jahr verschnupft sind. Aus seiner Erfahrung weiss Prof. Helbling jedoch auch: Nicht bei jedem Patienten, der immer wieder unter den Symptomen einer Allergie zu leiden scheint, trifft diese Diagnose auch tatsächlich zu. «Denn in Einzelfällen steckt auch eine Immunstörung, meist eine Störung in der Antikörperproduktion, dahinter. In der Schweiz schätzt man, dass eine solche bei rund 5 von 100.000 erkannt wird (3).»

Wann man hellhörig werden sollte

Leitsymptom eines Immundefekts, so Prof. Helbling, ist eine erhöhte «Infektanfälligkeit» vor allem der oberen Atemwege, die aber oft auch als «Allergie» verkannt werde. «Häufig fallen die Betroffenen von einer Erkältung in die andere und sind länger krank, als Bekannte, Kollegen oder Partner. Verdächtig ist auch, wenn jeder Schnupfen, jeder Husten, jedes Halskratzen vom Nachbarn aufgenommen wird.»

Prof. Helbling empfiehlt dabei, die oft zitierten Warnzeichen (siehe Kasten) sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ernst zu nehmen, und rechtzeitig an einen Immundefekt zu denken.

Besondere Warnzeichen sind für Prof. Helbling erfahrungsgemäss aber:

  • Chronische Müdigkeit
  • häufiges Fehlen am Arbeitsplatz (Stichwort: «Montagskrankheit»)
  • chronisches Fiebergefühl
  • wiederholte Antibiotika-Gaben, und
  • schlechte Impf-Immunantworten.

Radiologische Auffälligkeiten in der Lunge, die bei gegebener Anamnese hinweisend für eine Immunstörung sein können, sind mehrere nodule Knötchen oder Granulome, Bronchiektasen und gelegentlich auch ein Emphysem. Nicht so selten berichten Patienten trotz offensichtlichen Infekten über kein Fieber.

Allgemeine Warnzeichen für Immundefekte bei Erwachsenen

  • Vier oder mehr Infektionen innerhalb eines Jahres, bei denen eine Antibiotika-Therapie nötig wird
  • Infektionen mit ungewöhnlichen Lokalisationen oder mit auffälligen Erregern
  • Rezidivierende Pneumonien oder Sinusitiden mit dem Bedarf einer verlängerten Antibiotikatherapie
  • Mehr als drei protrahierte bakterielle Bronchitiden pro Jahr
  • Zwei oder mehr radiologisch nachgewiesene Pneumonien in weniger als drei Jahren
  • Abnormale oder sich verschlechternde Lungentests
  • Anstrengungsbedingte Verengung des Kehlkopfes (ILO - Laryngale Obstruktion) oder Stimmlippenstörung (VCD, Vocal Cord Dysfuntion)
  • Positive Familienanamnese

Raus aus der «Alles psychosomatisch»-Falle

Immundefekte können in jedem Alter auffallen, erinnert Prof. Helbling. Die variable Hypogammaglobulinämie (Common variable immunodeficiency, CVID) kann sich etwa ab Kindesalter bis ins hohe Alter erstmals durch eine auffällige Infektanfälligkeit, z.B. mit rezidivierenden Pneumonien, manifestieren und dann zur Diagnose führen (4). «Leider dauert es oftmals Jahre bis Jahrzehnte bis man erstmals die Immunglobuline misst und eine Verdachtsdiagnose stellt», fasst Prof. Helbling zusammen.

Da die Symptome eines Immundefekts unspezifisch sind und oft als «Allergie» abgelegt werden, haben viele Patienten bei der Diagnosekorrektur dann oft bereits einen langen Leidensweg hinter sich, berichtet der Experte. Mit fatalen Folgen auf die Lebensqualität der Patienten: «In vielen Fällen werden die Symptome von Arzt und Umfeld als nichtig oder psychosomatisch abgetan. Patienten suchen dann nach Antwort bei Ärzten, Therapeuten, Heilpraktikern jeder Art und büssen letztlich viel von ihrer Lebensenergie ein, was bei einigen in einer «Chronic Fatigue» oder Gefühlen von Angst und Panik endet.»

Prof. Helbling berichtet von einer 55-jährigen Frau, die mit 37 Jahren einen HNO-Arzt aufgrund von rezidivierenden Infekten aufsuchte. Labormässig wurde damals eine Hypogammaglobulinämie mit Verdacht auf CVID festgestellt und eine Immunglobulin-Substitution empfohlen. Der Zuweiser wie auch der Hausarzt, konnten mit der Diagnose nichts anfangen. Die Patientin ging «verloren», die Ärzte waren nicht mehr verfügbar. Im Anschluss wurde sie von anderen Ärzten von einem Infekt zum anderen begleitet und hat in den letzten 10 Jahren über 100 Mal Antibiotika bekommen. Bei der Reevaluation nach 16 Jahren war sie wegen einer Chronic Fatigue wieder vorstellig geworden.

Verdacht auf Immundefekt? «Bestimmen Sie die Immunglobuline!»

Prof. Helbling empfiehlt, Patienten genau zuzuhören: «Einige können klar zwischen Allergie und Infekten – auch wenn diese die oberen Atemwege betreffen – unterscheiden.» Ein klassischer Befund  für den Experten ist eine Allergie-suggestive Anamnese ohne Nachweis einer Sensibilisierung auf eine Allergenquelle.

Nebst häufigen und prolongiert verlaufenden Infekten, sollten auch Autoimmunopathien, Sicca-Symptome, nicht erklärbare Gastrointestinal-Beschwerden wie eine chronische Diarrhoe, Tumorerkrankungen vor allem bei Personen unter 50 Jahren immer Verdacht auf ein Immundefizit lenken. «Bestimmen Sie die Immunglobuline», empfiehlt Prof. Helbling nachdrücklich. Bei Verdacht empfiehlt sich ebenfalls ein komplettes Blutbild inklusive CRP-Wert.

«Wird eine Verminderung der Immunoglobuline festgestellt, gilt es diesen Befund zu bestätigen und den Patienten einem Spezialisten zuzuweisen», so der Experte. Auch nicht eindeutige Befunde sollen im Zweifel einem Experten zugewiesen werden. Im Zuge der Abklärung wird versucht, den Immundefekt genauer einzuteilen.

Immunschwäche lässt sich oft einfach beheben

Wird eine Immunschwäche diagnostiziert, gibt es mehrere therapeutisch gangbare Optionen, wobei nicht das Labor, sondern primär Klinik, Leidensdruck und Lebensqualität mit zu berücksichtigen sind.

Oftmals gestaltet sich die Behandlung von rezidivierenden Infekten sogar recht einfach, so Prof. Helbling. Je nach Art des Defektes reiche es oft schon aus eine Impfungen «nachzuholen». «Die häufigste Form der Immunschwäche bei uns ist der selektive IgG-Antikörpermagel gegen Pneumokokken-Polysaccharide (3). Hier liegen die Serum-Immunglobuline in der Regel im Normbereich.»

Dabei handelt es sich meist um Personen, die vor 2000* geboren wurden und die im Laufe der Kindheit oder auch später keine Prevenar-Impfung erhalten haben. «Impft man diese Patienten mit einem Konjugat-Impfstoff gegen Pneumokokken (neu in der Schweiz auch Vaxneuvance mit insgesamt 15 inkludierten Pneumokokken-Stämmen), geht es ihnen danach oft hervorragend», berichtet der Experte. Anzumerken ist, dass bedingt durch eine Alterslimitation die Krankenkassen nicht immer die Kosten übernehmen.

Der zweithäufigste Immundefekt ist der CVID, bei dem zwei bis drei der Antikörperklassen IgA, IgG und IgM vermindert sind (3).

Häufigste primäre Immundefekte in der Schweiz, bei 348 Patienten (im Jahr 2014, 3)

  1. Selektiver Antikörpermangel (62,4%)
  2. Variable Hypogammaglobulinämie (CVID) (28,2%)
  3. Andere Hypogammaglobulinämien (15,5%)
  4. Phagozytische Störungen (8,9%)
  5. Andere definierte Immundefekte (8,3%)
  6. Störungen der T-Zell-Funktion (6,6%)
  7. Störungen im Komplementsystem (4,6%)
  8. Autoentzündliche Erkrankungen (3,4%)
  9. Autoimmun- und Immundysregulationssyndrome (2,3%) 

Prophylaktische Antibiotikagaben, intravenöse Immunglobuline

«Bei gegebener Diagnose und akuten, bakteriellen Infekten soll mit Antibiotika-Gaben nicht zugewartet werden», empfiehlt Prof. Helbling generell für alle Immundefekte.

Leiden Patienten aber wiederholt unter schweren Infekten, ist die eigentliche Therapie bei einem   IgG-Antikörpermangel die Substitutionsbehandlung mit Immunglobulinen. «Dabei wird das ersetzt, was der Körper selbst nicht genügend produzieren kann. Sei dies intravenös (IVIG) oder subkutan (SCIG). Bei zeitiger Indikationsstellung und dank der Immunglobulin-Ersatztherapie wird die grosse Mehrheit der Patienten wieder neue Lebenskraft zurückgewinnen», so der Experte. So hat die oben erwähnte Patientin seit der regelmässigen Immunglobulingabe wieder zu einem «neuen» Leben zurückgefunden.

Bei wem gilt es, an (oft behandelbare) Immundefekte zu denken?

  • Eltern, Grosseltern und Betreuer von Kindern aus KITAs oder Kindergärten, die immer wieder oder chronisch eine Erkältung aufweisen
  • Patienten mit nicht erklärbarer Müdigkeit wie Chronic-Fatigue-Syndrom (z.B. MS [5], «Long Covid»)
  • Patienten mit einer Krebserkrankung, bei denen die Krankheit selbst oder deren Behandlung einen Immunglobulin-Mangel bedingen kann
  • Patienten unter Immunsuppression (z.B. aufgrund einer Transplantation)

*ab 2000 wurde die Pneumokokken-Impfung Prevenar-7 in der Schweiz für Kinder <2 Jahre zugelassen.