Medical Tribune
17. Aug. 2022Multimorbidität

Polypharmazie: Wann ist sie notwendig, wann führt ein Weg hinaus?

Ältere, vor allem multimorbide Patienten schlucken meist eine ganze Reihe an Medikamenten. Das liegt manchmal an den häufig komplexen Therapieschemata, und ist dann ein notwendiges Übel. Gelegentlich zahlt es sich aber aus, auch einmal ein Medikament abzusetzen.

Durch komplexe Therapieschemata ist man schnell bei einer Polypharmazie
iStock/Dóra Bíró

Viele multimorbide Patienten nehmen pro Tag mitunter zehn oder mehr Medikamente ein.

Gerade bei älteren, nicht selten multimorbiden Patienten besteht ein gewisses Risiko, dass sie simultan vom Hausarzt und Fachärzten behandelt werden – ohne angemessenen interdisziplinären Austausch. Ausserdem ist damit zu rechnen, dass auch noch der Heilpraktiker mitmischt oder eine Selbstmedikation stattfindet.

Wo beginnt die Polypharmazie?

Im Rahmen einer Pro- und Kontra-Debatte am Jahreskongress der SSC/SSCS 2022 skizzierte Professor Dr. Samuel Allemann, Departement Pharmazeutische Wissenschaften, Universität Basel, die Verordnungs- und Risiko-Situation in der Schweiz. Seiner Meinung nach beginnen die Schwierigkeiten bereits bei der Definition der Polypharmazie: Fallen zwei Medikamente täglich schon in diese Kategorie oder beginnt es erst bei fünf, acht, zehn oder mehr Medikamenten auf der Liste?

Eine Schweizer Studie aus dem Jahr 2013 konnte zeigen, dass mit zunehmendem Alter die Zahl der Personen abnimmt, die kein Medikament einnehmen: In der Altersgruppe 51–55 Jahre sind das etwa 50 Prozent, aber bereits rund 15 Prozent schlucken Tag für Tag fünf oder mehr Medikamente. Diese Polypharmazie steigt bis zum Alter von 90 Jahren kontinuierlich auf etwas mehr als 50 Prozent an. Die Wahrscheinlichkeit einer Polypharmazie erhöht sich auch mit der Zahl der behandlungspflichtigen, vor allem kardialen, renalen und metabolischen Komorbiditäten, so Prof. Allemann.

Vor dem Ausstellen eines Rezepts sollte daher immer überlegt werden, ob die Polypharmazie – unabhängig von der Anzahl der Medikamente – im individuellen Fall angemessen oder unangemessen ist (s. Kasten).

Angemessene vs. inadäquate Polypharmazie

Angemessene Polypharmazie:

  • spezifische therapeutische Zielsetzung, abgesprochen mit dem Patienten, die erreichbar erscheint
  • minimales Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen
  • Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten zur Umsetzung der Therapie

Inadäquate Polypharmazie:

  • keine evidenzbasierte Indikation
  • therapeutische Ziele nicht erreicht
  • potenzielle oder manifeste unerwünschte Arzneimittelwirkungen
  • Patient ist nicht motiviert oder nicht in der Lage, das Therapiekonzept umzusetzen

(nach Allemann S, 2022)

Polypharmazie kann zeitlich begrenzt notwendig sein

In der Kardiologie sind komplexe Therapieschemata eher die Regel als eine Ausnahme. Das hat erst kürzlich die Guideline-konforme 4-Säulentherapie bei HFrEF vor Augen geführt. Nicht viel anders sieht es mit der Polypharmazie beim Hypertoniker mit Diabetes aus. Professor Dr. Christian Müller, Universitäres Herzzentrum Basel, argumentierte, dass eine zeitlich begrenzte Polypharmazie häufig zwingend notwendig ist, um das Mortalitätsrisiko relevant zu senken und um die Lebensqualität zu verbessern. Allein schon das HFrEF-Management (ESC 2021) sieht einen ACE-Hemmer/ARNI, einen Betablocker, einen Mineralokortikoid-Ant­agonisten und einen SGLT2-Hemmer vor. Bei Bedarf sollte zusätzlich ein Diuretikum und bei Eisenmangel i.v. Eisencarboxymaltose verordnet werden. Und schon ist man mittendrin in der Polypharmazie.

Auch die Untertherapie ist nicht ohne Risiken

Der Experte verwies auch auf das aufwendige Prozedere bei der Entwicklung von Guidelines, das den Ärzten in Praxis und Spital die wissenschaftliche Evidenz für das jeweilige Therapiekonzept liefert. Selbstverständlich kann die Polypharmazie gefährlich sein, so Prof. Müller – vor allem dann, wenn ältere Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen behandelt werden müssen, sei es ambulant oder im Spital. In solchen Situationen muss konsequent auf mögliche Nebenwirkungen, Interaktionen und eine gute Adhärenz geachtet werden – denn auch die Untertherapie ist nicht ohne Risiken.

Mit einem Beispiel aus der aus einer Klinik in den USA stieg Professor Dr. Franz Eberli, Stadtspital Triemli, Zürich, in die Praxisrealität ein: Bei 231 HFpEF-Patienten mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren standen bei drei Viertel zehn und mehr Pharmaka auf der Medikationsliste. Angesichts der Komorbiditäten war das nicht weiter erstaunlich, denn bei 83 Prozent bestand eine Hypertonie, bei 72 Prozent eine Adipositas, bei je 68 Prozent eine Dyslipid­ämie resp. ein OSAS und knapp die Hälfte hatte einen Diabetes.

Das Unverzichtbare hat Priorität

Hier helfen weder randomisierte kontrollierte Studien (RCT) noch der Blick in die Guidelines. Aufgrund komplexer Ein- und Ausschlusskriterien sind solche schwierigen Patienten in RCTs unterrepräsentiert oder ausgeschlossen. In den Guidelines sucht man ausserdem vergeblich nach Hinweisen auf Interaktionen und Nebenwirkungen, so Prof. Eberli. Er empfahl, sich vor Verordnung eines Medikaments zu vergewissern, dass es die Symptome bessert und – wenn immer möglich – ein Mortalitätsbenefit resultiert.

Auch das Weglassen von Medikamenten kann dazu führen, dass sich ein Patient besser fühlt. Zudem lässt sich durch kluges Weglassen von Medikamenten (De-Prescribing) nicht nur das Wohlbefinden steigern, sondern auch der Krankheitsverlauf verbessern.