Medical Tribune
19. Jan. 2022Ein Blick in die Zukunft

Wie man im Jahr 2030 mit Nahrungsmittelallergien bei Kindern umgehen könnte

Die Erforschung von Nahrungsmittelallergien läuft auf Hochtouren, sodass sich mittelfristig vieles ändern wird. Denkbar wären das Ende der Kuhmilchallergie, die Analyse des molecular spreading und mehr gezielte Therapien.

«Die Zukunft ist heute schon da», leitete Dr. Lars Lange von der Kinder- und Jugendmedizin an den GFO Kliniken Bonn, Standort St. Marien, seine Visionen zu pädiatrischen Nahrungsmittelallergien für das Jahr 2030 ein. Sein erstes Thema: die Prävention. «Wir können schon am zweiten Lebenstag eine Nahrungsmittelallergie vorhersagen», erklärte der Pädiater. Das gelingt über die Messung des transepidermalen Wasserverlustes (TEWL). Der prädiktive Wert hat sich in einer Studie mit rund 1900 Kindern gezeigt: 75 % der Teilnehmer, die im Alter von zwei Jahren an einer Nahrungsmittelallergie litten, hatten bereits am zweiten Lebenstag TEWL-Werte im obersten Quartil.

Emollenzien beugen einer Neurodermitis nicht vor

Die Entwicklung muss man sich so vorstellen: Der Wasserverlust trocknet die Haut aus, trockene Haut begünstigt Ekzeme bis hin zur Neurodermitis, die wiederum führt zu Sensibilisierungen und endet eventuell im atopischen Marsch. Einfach nur wahllos zu cremen hilft aber nichts. Das stellte sich in zwei sehr grossen Studien heraus, in denen die Haut von Risikokindern vorbeugend mit Emollenzien behandelt wurde. Beide Untersuchungen scheiterten im Hinblick auf die Vorbeugung einer Neurodermitis. Dr. Lange riet dazu, Topika individuell nach Hautbeschaffenheit und Jahreszeit auszuwählen, ein differenzierter Lipidmix plus Ceramide könnten die Wende bringen.

Allergien auf Kuhmilch müssten nach Aussage des Referenten überhaupt nicht mehr sein. Nachweislich bewahrt die tägliche geringe Zufuhr von wenigstens 10 ml Kuhmilch Babys vor dieser Sensibilisierung. «In der Praxis haben wir oft das Problem der hidden bottle», erklärte Dr. Lange. Dies bedeutet, dass Säuglinge von frischgebackenen Müttern, die nicht gleich stillen können, vorübergehend Milch aus der Flasche erhalten. Klappt es dann mit der Brustfütterung, kommt die Flasche weg, die Kleinen werden nicht weiter desensibilisiert, die Gefahr für eine Allergie steigt.

In der Prävention von Allergien bei Neurodermitikern lautete die klare Botschaft des Kinderarztes: weg mit der Angst vor Steroiden. Moderne Steroide sind effektiv und auch langfristig sicher. Wie japanische Forscher zeigen konnten, führt eine frühe, aggressive, proaktive Therapie zur Remission und verhindert Allergien. «Wir brauchen die Remission und wir müssen sie erhalten», mahnte Dr. Lange. Seine Zukunftsvisionen zum Stichwort Vorbeugung fasste er so zusammen:

  • Risikokinder werden gezielt erkannt, die Eltern früh zu Pflege und Beikost beraten.
  • Kinder erhalten eine passgenaue, in Studien evaluierte Basistherapie, um Ekzeme zu verhindern.
  • Wenn ein Ekzem auftritt, erfolgt eine frühe, mutige und konsequente antientzündliche Therapie.

«Kann Spuren enthalten von ... ist Mist»

Die Lebensqualität von Nahrungsmittelallergikern liesse sich nach Ansicht von Dr. Lange steigern, wenn sie es leichter hätten, das Allergen zu meiden. «Kann Spuren enthalten von ... ist Mist», sagte der Kinderarzt. Sinnvoll wären weltweite Studien zu Schwellenwerten mit Einzeldosisprovokationen. Auf deren Ergebnissen basierend könnte man dann Lebensmittel entweder mit «frei von» deklarieren oder vermerken, dass die Risikoüberprüfung ergeben hat, dass sich das Produkt nicht für Allergiker eignet.

Was die Diagnostik angeht, träumt Dr. Lange von der Analyse des «molecular spreading». Sensibilisierungsmuster auf die Proteine eines Allergens verraten den zukünftigen klinischen Verlauf. «Je mehr erkannt werden, umso kranker werden die Kinder später», erläuterte der Pädiater. Man muss oligosensibilisierte Kinder mit milden Symptomen und einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine spätere Toleranz von bereits frühzeitig breit sensibilisierten mit schweren Symptomen unterscheiden. Letztere haben kaum eine Chance auf Toleranz und brauchen eher eine Immuntherapie.

Therapeutisch stehen in erster Linie die epikutane und die orale Immuntherapie (EPIT/OIT), evtl. auch in Kombination, zur Verfügung. Die OIT kann ggfs. durch Biologika ergänzt werden.

Doch noch gibt es viele Probleme: Biologika sind für Nahrungsmittelallergien nicht zugelassen und off label zu teuer. OIT gibt es kommerziell nicht für Milch, Ei und Nüsse, bei der OIT gegen die Erdnuss sind kleine Kinder und Erwachsene aussen vor, und Menschen mit multiplen Sensibilisierungen auf Nahrungsmittel haben ganz schlechte Karten. Eine Möglichkeit für schwer kranke Polyallergiker ist die gleichzeitige OIT mit standardisierten Mixturen verschiedener Nahrungsmittel nach Vorbehandlung mit Omalizumab. Die Wirksamkeit sollte man mit wiederholten Provokationen überprüfen.

EPIT und OIT funktionieren generell bei jüngeren Kindern besser, Prädiktoren für den Erfolg sind niedriges IgE im Serum, geringe Reaktion im Pricktest und wenige Nebenwirkungen unter der Behandlung. Als Risikofaktoren für ein Therapieversagen nannte Dr. Lange starke Reaktion im Pricktest, allergische

Erdnussallergie oral lindern

Mittlerweile ist die erste orale Immuntherapie für Erdnussallergiker zwischen 4 und 17 Jahren auf dem Markt. Eine Toleranz lässt sich damit zwar nur selten erreichen, aber bei 80 % der Betroffenen gelingt eine signifikante Anhebung der Schwelle. Die Therapie ist auf Dauer vorgesehen, nach dem Absetzen geht der Schutz sukzessive verloren.

Rhinitis, Asthma, schwere Nebenwirkungen sowie heftige Reaktionen in der Provokation. Er hofft, dass es künftig möglich sein wird, das Ansprechen durch Analyse des Phänotyps vorherzusagen.

Für 2030 hegt der Referent folgende Hoffnungen:

  • OIT und EPIT sind ab dem ersten Lebensjahr für Allergien auf Erdnuss, Haselnuss, Cashew, Walnuss und Sesam verfügbar.
  • Es gibt Leitlinien für die konkrete Durchführung einer OIT mit Milch, Ei und Weizen mit nativen Nahrungsmitteln bei Schulkindern.
  • Für Vorschulkinder liegen klare Empfehlungen zur schrittweisen Einführung von stark erhitztem Ei und stark erhitzter Milch vor.
  • Es existiert eine EPIT für Jugendliche mit schwerer Ei- oder Kuhmilchallergie.

Die Behandlung sollte in Zukunft bei Kleinkindern früh und gleich nach der Diagnose mit OIT oder EPIT beginnen. «Ziel ist die Toleranz», betonte Dr. Lange. Aber auch Ältere erhalten das Angebot der Desensibilisierung: weniger schwer Betroffene eher mit einer OIT, schwerer Erkrankte besser mit einer EPIT.

Generell malt sich Dr. Lange für den Grossteil der Allergiker eine individuelle und kurative Therapie durch frühe Intervention aus. Patienten mit hohem Risiko für Nebenwirkungen oder Therapieversagen bekommen idealerweise eine adjuvante Therapie, die ihnen die Immuntherapie ermöglicht.

Allergologie im Kloster 2021