Medical Tribune
31. Mai 2017Abnehmen leicht gemacht

Wie die Adipositas eindämmen?

Wenn man sich vertrauensvoll an Google wendet und «abnehmen leicht gemacht» eingibt, bekommt man mehr als eine halbe Million Treffer. An Ideen und Ratschlägen fehlt es offenbar nicht. Doch eine langfristig stabile Gewichtsnormalisierung erreichen nur wenige Patienten, wenn das Gewicht erst einmal aus dem Ruder gelaufen ist. Wir sprachen mit Professor Dr. Thomas Peters, Chefarzt Innere Medizin, Endokrinologie mit Ernährungszentrum, St. Claraspital, Basel, einem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Hospital Tribune.

Zwei gegensätzliche Entwicklungen sind unübersehbar: adipöse Personen auf der einen Seite und extrem schlanke, fast schon anorektische (oft junge) Menschen. Wird es zunehmend schwieriger, die goldene Mitte zu finden?

Prof. Peters: Ich denke, dass das schon so ist. Man beobachtet sowohl eine Zunahme der Essstörungen, die zur Anorexie führen, als auch jener Störungen, aus denen eine Adipositas resultiert. Gesellschaftliche Faktoren spielen hier sicherlich eine Rolle, ebenso wie die Beschäftigung mit Schönheitsidealen. Essen und Ernährung unterliegen vielfältigen Modetrends, bis hin zu riskanten Mangeldiäten. Veranlagung und Umwelt können eine Adipositas begünstigen und aufrechterhalten, wobei wir den Bewegungsmangel als wesentlichen Faktor nicht ausser Acht lassen dürfen. 

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich jene am meisten Gedanken über das Gewicht machen, die es am wenigsten nötig haben – und umgekehrt?

Prof. Peters: Das sehe ich nicht ganz so. Auch Patienten mit Anorexie und sehr viele Übergewichtige machen sich Gedanken über ihr Essverhalten – und sie leiden oft erheblich. Spätestens dann, wenn Folgen des Übergewichts spürbar werden, wenn metabolische Komplikationen oder arthrotische Beschwerden auftreten.

Als Endokrinologe gehört die Konfrontation mit der Adipositas zu Ihrem täglichen Brot. Insbesondere für Diabetes-Patienten ist das Gewicht ein Dauerthema. Wie gelingt es, immer wieder zu motivieren, und was ist Ihre Erfolgsstrategie?

Prof. Peters: Entscheidend ist, dass sich Patient und Therapeut auf realistische Ziele einigen. Denn wir müssen uns immer vor Augen halten, dass es von der Natur nicht vorgesehen ist, dass ein Mensch abnimmt. Pauschale Empfehlungen gibt es nicht – wir müssen das, was jeder in seiner individuellen Entwicklung gelernt hat, miteinbeziehen und in kleinen Schritten Veränderungen im Alltag bewirken. Das betrifft die Ernährung ebenso wie die körperliche Aktivität. Auch die Art, wie er sich belohnen kann, müssen wir herausfinden, damit die Lifestyle-Intervention gelingen kann. Wenn wir hier auf breiter Basis etwas bewirken wollen, müssen die Eltern bereits bei den kleinen Kindern beginnen, und die Lehrer müssen sich ebenfalls engagieren. Doch das braucht Zeit und Geduld. Wichtig sind Erfolgserlebnisse, die ich als Motor für eine langfristige Umsetzung des Lifestyle-Konzepts ansehe. Das kann Anerkennung durch andere sein, aber auch eine Verbesserung oder Normalisierung von Stoffwechselparametern. Wenn Medikamente, die zur Korrektur des entgleisten Stoffwechsels notwendig waren, abgesetzt werden können, ist das ein ganz besonders wichtiger Erfolg.

Wie kann es gelingen, den oft über Jahrzehnte eingefahrenen Lifestyle umzukrempeln?

Prof. Peters: Kleine Schritte sollten angestrebt werden, denn auch das Fehlverhalten haben wir uns schrittweise angeeignet. Je älter wir werden, desto schwieriger wird es allerdings, eingefahrene Pfade zu verlassen. Unterstützend können Schrittzähler und eine Vielzahl an Smartphone-Apps genutzt werden. Das kommt insbesondere der jüngeren Generation entgegen. Diese Geräte geben ein Feedback über das Ernährungsverhalten und die körperliche Aktivität. Darüber hinaus hat es sich bewährt, die Umgebung miteinzubeziehen und die Partner für die Unterstützung zu gewinnen. Für Kinder ist die Vorbildfunktion der Eltern wichtig.

Was halten Sie von den Empfehlungen, die letzte Mahlzeit des Tages vorzuverlegen und die Nüchternphase zu verlängern?

Prof. Peters: Die wissenschaftliche Evidenz dafür ist noch nicht sehr stark, doch aus meiner Sicht macht das Sinn. Unser Biorhythmus sieht vor, dass nachts keine Verdauungsprozesse ablaufen und der Stoffwechsel sich auf katabole Prozesse fokussiert. Eine gehaltvolle Abendmahlzeit – heute für viele eine Selbstverständlichkeit – ist in diesem Sinn kontraproduktiv. Kleinere Untersuchungen konnten zeigen, dass es von Vorteil für das Gewicht ist, wenn die Hauptmenge an Kalorien morgens und mittags zugeführt wird. 

Was bringt es, wenn man sich an sechs Tagen in der Woche kalorienbewusst ernährt und an einem Tag kalorienmässig über die Stränge schlägt? Fällt so das Durchhalten leichter?

Prof. Peters: Diese Form der Diät steht eigentlich nicht zur Debatte, wir propagieren eher ein gemässigtes Essverhalten über sieben Tage. Kleinere Belohnungen in Form von etwas Schokolade oder Ähnlichem werden in den Tages-Kalorien-Pool eingebaut. Eventuell kann die Kalorienreduktion auch durch einen Fastentag in der Woche erreicht werden. 

Bei welchen adipösen Patienten empfehlen Sie die metabolische Chirurgie?

Prof. Peters: Die metabolische Chirurgie hiess früher Adipositas- oder bariatrische Chirurgie, weil sie hochgradig adipösen Patienten vorbehalten ist, entsprechend einem BMI > 35 kg/m2. Sie ist keine First-Line-Therapie, ausserdem muss auch eine psychosoziale Stabilität gegeben sein. Heute spricht man von metabolischer Chirurgie, weil sie einen besonders günstigen Effekt auf Stoffwechselerkrankungen wie den Diabetes ausübt. Am sinnvollsten ist es, wenn man solche Eingriffe durchführt, bevor diese Folgeerkrankungen auftreten. Ob und inwieweit Diabetes-Patienten mit einem niedrigeren Gewicht, also mit einem BMI < 35 kg/m2, profitieren, ist momentan Gegenstand wissenschaftlicher Studien. 

Was kann man den Patienten in Aussicht stellen – und was nicht?

Prof. Peters: Diese Operationen reduzieren nicht nur die übermässige Nahrungsaufnahme, sondern ändern auch die Nahrungspräferenzen und modifizieren wichtige Stoffwechselwege, die dazu beitragen, das Gewicht zu stabilisieren. 

Kommen Patienten oft mit falschen Erwartungen zu Ihnen?

Prof. Peters: Grundsätzlich sind die Erwartungen zu hoch. Ein Patient mit BMI über 35 wird nach dem Eingriff immer noch leicht übergewichtig sein. Auch besteht keine Garantie für eine langfristig stabile Gewichtsabnahme. Einige Patienten unterschätzen, wie viel sie selbst zum Erfolg beitragen müssen.

Wie sind die Erfolgsaussichten solcher chirurgischer Eingriffe – und mit welchen Komplikationen ist zu rechnen?

Prof. Peters: Der Eingriff ist mit Risiken behaftet, die individuell unterschiedlich hoch sind. Das wird präoperativ sorgfältig eruiert. Wir müssen auf jeden Fall mit den üblichen chirurgischen Komplikationen rechnen. Todesfälle können vorkommen, leider nicht nur bei Patienten, deren Vorbelastung wie Diabetes oder  Herzerkrankung vielleicht unterschätzt wurde. Doch auf lange Sicht werden durch die metabolische Chirurgie Leben gerettet: Der Überlebensvorteil zeigt sich bereits nach 5–6 Jahren. Besonders eindrucksvoll ist, dass die Rate an Krebserkrankungen zurückgeht, denn Übergewicht ist ein wichtiger onkologischer Risikofaktor. Bei guter Kooperation und ansonsten gesundem Stoffwechsel kann ein Patient 60–70 % des Übergewichts verlieren. Das entspricht etwa 30 % des Gesamtkörpergewichts. Wir verfügen über langfristige Verläufe von mehr als 30 Jahren, die zeigen, dass es funktioniert.

Besten Dank für das Gespräch!