Medical Tribune
11. März 2023Gesundheitsversorgung in der Schweiz

Wie bewältigen wir die Systemkrise im Gesundheitswesen?

In einem Gastbeitrag äus­sert sich Dr. Daniel Heller, Verwaltungsratspräsident der Kantonsspital Baden AG, zu aktuellen Herausforderungen im Schweizer Gesundheitswesen.

Das Gesundheitswesen in der Schweiz benötigt dringende Reformen.
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Immer noch hebt sich unser Niveau der Gesundheitsversorgung im Vergleich zu den EU-Staaten in vielen Punkten ab: Solide Finanzierung, gesunder Mix aus privater Initiative und staatlichem Engagement, sowie universelle Zugänglichkeit und rasche Verfügbarkeit für alle lassen unsere Versorgung im internationalen Vergleich immer noch gut abschneiden.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für die gesamte Bevölkerung bei sehr weitgehenden Wahlmöglichkeiten gesichert, und es gibt praktisch keine Wartezeiten. Daher besteht ein hoher Grad an Zufriedenheit der Schweizerinnen und Schweizer mit ihrem Gesundheitssystem. Bei der Vorhaltung von ärztlichem Personal und Spitalbetten liegt die Schweiz deutlich über dem OECD-Schnitt, bei der Beschäftigung von Pflegepersonal ist das Schweizer System sogar Spitzenreiter.

Eklatante Unterfinanzierung des ganzen Systems

Das Schweizer Gesundheitssystem ist aber seit der Pandemie prekär unterwegs. Stichworte lauten: Überfüllte Notfallstationen, zahlreiche wegen Personalmangels nicht betriebene Betten, Versorgungslücken infolge Ärzte- und Pflegepersonalmangel, notorische Unterfinanzierung bis hin zu Spitalkonkursen und staatlichem Dirigismus mit Strangulierung des Systems durch exzessive Vorschriften, Auflagen und Eingriffe – all diese Entwicklungen drohen Löcher in eine bisher exzellente Versorgung zu reissen.

Die jahrelang fehlgeleitete politische Diskussion über die angeblich seit Jahren explodierenden Kosten führen jetzt zu einer eklatanten Unterfinanzierung des ganzen Systems. Während das BIP zwischen 2000 und 2017 um mehr als 230 Milliarden CHF zugelegt hat und die Lohnsumme in der Schweiz um stolze 150 Milliarden CHF gestiegen ist, haben die Gesundheitskosten nur um ganze 17 Milliarden CHF zugenommen. Explosionen sehen anders aus.

Die seit 2012 abgesenkten stationären Tarife sind heute bei 10 Prozent Unterdeckung; die jahrelang nicht angepassten ambulanten Tarife sind bis zu 30 Prozent defizitär. Der Median der EBITDA-Marge der Akutspitäler ist gemäss PwC-Studien von 6,7 Prozent im Jahr 2012 auf gerade noch 5,1 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Das ist die Hälfte des Ertrages, die ein Spital zum langfristigen Überleben braucht. Erste Spitäler laufen in Überschuldungen und müssen staatlich gerettet werden. Insgesamt droht uns aktuell ein Systemversagen.

Damit das Schweizer Gesundheitssystem seine führende Rolle behaupten kann, ist es wichtig, dass es nicht kaputt reguliert, sondern innovativ weiterentwickelt wird. Primär muss die Innovation innerhalb der Branche vorangetrieben werden, um die aktuellen Trends zu meistern.

Nicht mehr «Sick Care» sondern echte «Health Care»

Insgesamt stehen wir auch in der Schweiz vor dem «Age of Health», das heisst die Gesundheitsmärkte werden zu Treibern einer neuen wirtschaftlichen Ära, in welcher unser Gesundheitswesen sich von einer «Sick Care» zu einer echten «Health Care» wandeln wird. Entsprechend ist die Erwartung in weiter boomende Gesundheitsmärkte ungebrochen. Das alles stellt Spitäler und übrige Leistungserbringer vor grosse Herausforderungen.

Es offenbaren sich drei Aktionsfelder, die das Schweizer Gesundheitswesen nachhaltig weiterentwickeln würden:

  • weniger staatliche Eingriffe, Re­striktionen und Vorschriften, im Gegenzug kostendeckende Tarife (plus zehn Prozent stationär, plus 30 Prozent ambulant, ausreichend gemeinwirtschaftliche Leistungen für Vorhalteleistungen)
  • mehr Innovation auf allen Ebenen, insbesondere durch die konsequente Nutzung der Digitalisierung, und
  • mehr Diskussionen um den Nutzen unseres Gesundheitswesens; mittels Qualitätswettbewerb und neuen Finanzierungsmodellen erreichen wir mehr Resilienz und Durchhaltefähigkeit mit Blick auf neue Gesundheitsrisiken.

Richtige Anreize und weniger Etatismus

Insbesondere brauchen wir dringend eine echte Digitalisierung der Gesundheitsversorgung. Diese müsste sicherstellen, vorhandene Daten schnell zu analysieren, zu teilen und zu nutzen. Zu vereinfachen wären sodann administrative Abläufe, was Transparenz und Effizienz im System erhöht und die Vergleichbarkeit der Leistungserbringer und ihrer Qualität untereinander ermöglicht. Damit wird die Wahlfreiheit für Patientinnen und Patienten erhöht und ein Qualitätswettbewerb («Wo erhalte ich die beste Medizin?») ermöglicht.

Ergänzend benötigen wir der Teuerungsentwicklung angepasste Tarife, faire Abgeltungen für Vorhalteleistungen sowie neue Finanzierungsmodelle, wie das von den drei Partnern Swiss Medical Network, Visana und dem Kanton Bern vorgestellte neue Grundversicherungsprodukt. Das setzt die richtigen Anreize für eine kosteneffiziente Versorgung.

Wenn dann noch Dank Transparenz die Qualität medizinischer Leistungen für den Patienten erkennbar gemacht werden können, geht es endlich Richtung «Value Based Health Care». Nur mit den richtigen Anreizen und mit weniger Etatismus kann die Schweiz die Qualität ihres Top-Gesundheitswesens halten und die Systemkrise überwinden.

Steckbrief

Portrait-Foto Dr. Daniel Heller
zVg

Dr. Daniel Heller ist Partner bei Farner Consulting AG. Im Jahr 2000 übernahm er das Präsidium der Spezialklinik Barmelweid, wandelte diese als erstes Spital im Kanton Aargau in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft um und wurde 2014 Verwaltungsratspräsident der Kantonsspital Baden AG. Daneben hält er verschiedene Verwaltungsratsmandate im Finanz- und Startup-Bereich. Er hat in Zürich Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Politikwissenschaften studiert (Promotion Dr. phil. I) und wohnt in Erlinsbach AG.