Medical Tribune
20. Sept. 2022Gendermedizin

Wie unterschiedlich verläuft die koronare Herzerkrankung bei Frau und Mann?

Inzwischen steht ausser Frage, dass sich geschlechterspezifische Aspekte auf das akute und chronische Koronarsyndrom auswirken. Eine Expertin berichtet, welche biologischen und soziokulturellen Unterschiede zu diesen Effekten führen, und worauf bei Frauen und Männern geachtet werden sollte.

Drei Holzwürfel mit den Symbolen für Frau, Gleich und Mann. Eine dreht das Gleich zu einem Ungleich
marchmeena29/gettyimages

Bei kardiologischen Erkrankungen gibt es bedeutende Unter­schiede zwischen Frau und Mann.

«Biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau resultieren zwar prinzipiell aus den Geschlechtschromosomen sowie den männlichen resp. weiblichen Sexualhormonen und deren Auswirkungen auf die Anatomie und Physiologie von Männern und Frauen», erklärt Professor Dr. Cathérine Gebhard, Leitende Ärztin Kardiologie, Inselspital Bern, und Oberärztin Nuklearmedizin, Universitätsspital Zürich (1).

Risikoverhalten ist unterschiedlich ausgeprägt

Doch so einfach ist es gerade eben nicht. Denn zusätzlich kommen individuell unterschiedlich stark soziale Konstrukte ins Spiel – eher männliche oder weibliche Charakteristika und Verhaltensweisen, die zusammen mit Lebensstilfaktoren, Ernährungs-, Trink- und Rauchgewohnheiten sowie Stresswahrnehmung und sportlichen Aktivitäten modifizierend wirken. Wichtig ist hierbei ausserdem, dass solche sozialen Faktoren mittels epigenetischer Mechanismen auch die Biologie von Mann und Frau beeinflussen können; doch in diesem Bereich steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen.

Interindividuell existieren darüber hinaus Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Krankheit und Kranksein, verbunden mit unterschiedlicher Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe, Vorsorge- und Gesundheitsleistungen. Auch Entscheidungen im Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen, bis hin zum therapeutischen Ansprechen, können sehr unterschiedlich ausfallen.

Als wichtigen Aspekt erwähnte Prof. Gebhard das unterschiedliche Risikoverhalten: Obwohl Frauen häufiger eine falsche Diagnose erhalten, ist bei Männern in Europa das Risiko eines vorzeitigen Todes doppelt so hoch wie bei Frauen. Denn Männer tendieren eher zu einer ungesunden Ernährung, halten sich weniger oft an Therapieschemata und die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass sie rauchen, Alkohol und Drogen konsumieren oder zu riskanten Verhaltensweisen tendieren. Auch hinsichtlich der kardiovaskulären Risikofaktoren unterscheiden sich Frauen und Männer (s. Kasten unten).

Frauen kommen seltener auf die Intensivstation

Prof. Gebhard betätigt sich selbst wissenschaftlich auf diesem Gebiet: Sie berichtet über neue Erkenntnisse zum akuten Koronarsyndrom (ACS), das sich bei Männern und Frauen unterschiedlich manifestieren kann. «Geschlechterspezifische Unterschiede in der Kommunikation sind mitverantwortlich, dass eine Angina pectoris bei Frauen häufig nicht als solche erkannt wird» erinnert sie. Auch Ärzte neigen dazu, das Vorliegen einer ischämischen Herzkrankheit bei Frauen weniger oft abzuklären als bei Männern – trotz ähnlicher Risikokonstellation.

Eine Studie aus der Schweiz mit über 450.000 Patienten konnte zeigen, dass Frauen mit einer kardiovaskulären Erkrankung seltener auf die Intensivstation kommen als Männer, trotz gleicher Schwere der Erkrankung. «Es erstaunt daher auch nicht, dass im ersten Jahr nach einem ST-Hebungsinfarkt die Sterblichkeit oder die Rate an Re-Infarkten bei Frauen relevant höher ist als bei Männern», so Prof. Gebhard. Darüber hinaus gibt es weitere relevante Unterschiede:

  • Die Prävalenz der koronaren Herzkrankheit (KHK) ist bei Männern höher als bei Frauen (8,3 vs. 6,2%).
  • Trotz der niedrigeren Prävalenz ist die kurz- und langfristige Mortalität bei Frauen um 40 Prozent höher – nach Korrektur für Alter und Komorbiditäten.
  • Bei 30 bis 50 Prozent der Frauen mit Angina pectoris besteht keine obstruktive KHK im Vergleich zu 17 Prozent bei den Männern.
  • Der Nachweis einer myokardialen Ischämie bei nichtobstruktiver KHK wird als INOCA (ischemia with non-obstructive coronary artery disease) bezeichnet. Die 5-Jahres-Ereignisrate von INOCA ist bei symptomatischen Frauen höher als bei Männern.
  • Eine Differenzialdiagnose von INOCA ist die mikrovaskuläre Dysfunktion. Diese tritt bei Frauen häufiger auf, wird aber viel zu selten diagnostiziert, weil sich der Fokus zu sehr auf epikardiale Koronarstenosen richtet.

Geschlechterunterschiede bei kardiovaskulären Risikofaktoren (2)

Frauenspezifische Risikofaktoren

  • polyzystisches Ovar-Syndrom / Hormonstörungen
  • vorzeitige Menopause
  • Schwangerschaftsdiabetes
  • Schwangerschaftsbluthochdruck/Präeklampsie
  • rheumatoide Arthristis
  • Autoimmunerkrankungen
  • Bestrahlung und Chemotherapie bei Brustkrebs
  • hormonelle Kontrazeption*
  • postmenopausale Hormonersatz­therapie

Nichttraditionelle und traditionelle Risikofaktoren mit hoher Prävalenz bei Frauen mit KHK

  • Depression
  • mentaler Stress
  • niedriger sozioökonomischer und ­Bildungsstatus
  • Diabetes, metabolisches Syndrom
  • Hypertonie
  • Adipositas
  • chronische Nierenerkrankung
  • Rauchen

Protektive Faktoren mit stärkerer Risikoreduktion bei Frauen als bei Männern

  • Bewegung
  • Ernährung: hoher Anteil Früchte und Gemüse
  • moderater Alkoholkonsum

* Erhöht das kardiovaskuläre Risiko vor allem bei Frauen, die bereits andere Risikofaktoren oder eine manifeste KHK haben. Je höher die Dosis, desto höher ist das kardiovaskuläre Risiko

Referenz
  1. Schweizer Kardiologiekongress SSC/SSCS 2022, 15.-17. Juni 2022, St. Gallen
  2. Gebhard C. Gebhard C. Women and acute coronary syndromes: still up to no good. Eur Heart J. 2017 Apr 7;38(14):1066-1068. doi: 10.1093/eurheartj/ehx109.