Medical Tribune
26. Aug. 2022(Zu) viele Optionen

Womit neue MS-Medikamente punkten können

Das Armamentarium an Medikamenten zur Behandlung der MS hat sich insbesondere in den letzten Jahren stark erweitert. Mittlerweile gibt es geradezu eine Schwemme an Therapieoptionen, die auch so manchen Neurologen überfordert. Eine Expertin ordnet einige der neuen Wirkstoffe, darunter Diroximelfumarat, Ofatumumab, und die neuen S1P-Rezeptor-Modulatoren ein.

The diagnosis Multiple Sclerosis written on a clipboard
Zerbor/gettyimages

Ohne Behandlung erreichen MS-Patienten innerhalb von zwei bis drei Jahren eine klinisch relevante Behinderungsprogression, konvertieren innerhalb von zehn Jahren in eine sekundäre Progression, weisen nach 15 Jahren irgendeine Form von Gehbehinderung auf und sind nach 25 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Ein früher Therapiebeginn verzögert die Progression und verbessert die Prognose, sagt Stefanie Müller, Oberärztin mbF, Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, am Forum für medizinische Fortbildung Neurologie Update Refresher. Dabei machen bereits drei Jahre Behandlungsverzögerung einen grossen Unterschied aus.

Mit den zunehmend wirksameren Therapien erreichen Patienten einen EDSS 6 signifikant später (1). Wie der Vergleich verschiedener in Dänemark und Schweden durchgeführter Behandlungsstrategien zeigt, führt die Hit-hard-and-early-Strategie mit frühem Beginn einer hocheffektiven Therapie zu besseren Verläufen in puncto Schubratenreduktion und Behinderungsprogression als der Start mit einer moderat wirksamen Therapie (2).

Weniger Therapieabbrüche unter Diroximelfumarat

Zu den in letzter Zeit neu zugelassenen Medikamenten zählt Diroximelfumarat. Dieses ist seit letztem Jahr für die Behandlung von Patienten mit schubförmig remittierend verlaufender MS zur Reduktion der Schubhäufigkeit indiziert. Ausschlaggebend für die Entwicklung waren die gastrointestialen Nebenwirkungen von Dimethylfumarat. Unter Dimethylfumarat treten bei bis zu 40 Prozent der Patienten Beschwerden wie Durchfall, Bauchschmerzen oder Blähungen auf. In Studien brachen deswegen manchmal mehr als zehn Prozent die Therapie mit Dimethylfumarat ab. Das besser verträgliche Diroximelfumarat und Dimethylfumarat sind bioäquivalent, erklärt die Expertin.

In zwei Phase-III-Studien, EVOLVE-MS-1 und-2, hat man die beiden Substanzen im Hinblick auf Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit verglichen. Unter Diroximelfumarat gab es im Vergleich zu Dimethylfumarat 46 Prozent weniger gastrointestinale Nebenwirkungen und nur 0,8 Prozent brachen die Therapie aus diesem Grund ab, unter Dimethylfumarat waren es 4,8 Prozent (3).

Stabile IgG-Werte unter Ofatumumab

Die Anti-CD-20-Antikörper Rituximab (off-label bei MS), Ocralizumb, Ofatumumab und Ublituximab (noch nicht in der Schweiz zugelassen) führen alle zu einer B-Zell-Depletion, binden aber an unterschiedlichen Stellen des Epitops. Bis auf das subkutan gegebene Ofatumumab werden alle Substanzen intravenös. verabreicht.

Infusionsreaktionen verlaufen dabei meistens mild bis moderat. Bei Ofatumumab benötigt man keine oder nicht zwingend eine Prämedikation, bei den anderen Präparaten Steroide, Paracetamol und ein Antihistaminikum. Auch Ofatumumab ist seit dem letzten Jahr zugelassen zur Therapie bei aktiver, schubförmig verlaufender Form der MS. Es handelt sich um einen vollständig humanen Antikörper. In den Studien Asclepios I und II zeigte die Substanz im Vergleich zu Teriflunomid gute Daten und führte zu einer raschen B-Zell-Depletion, die weniger lange anhält als unter den anderen Anti-CD-20-Antikörpern.

Nach dem Absetzen steigen die B-Zellen innerhalb von 24 bis 36 Wochen bei mindestens 50 Prozent der Behandelten wieder auf die Normwerte. Ein Problem, das bei Langzeitbehandlung mit Anti-CD20-Antikörpern auftritt, ist die Hypogammaglobulinämie, so die Referentin. Für Ofatumumab zeigt sich über einen Beobachtungszeitraum von 3,5 Jahren, bzw. neue Daten auch über vier Jahre, dass die IgG-Werte stabil bleiben.

S1P-Rezeptor-Modulatoren wirken selektiv

Auch bei den S1P-Rezeptor-Modulatoren gibt es Zuwachs. Während Fingolimod auf fast alle fünf Subrezeptoren von S1P – 1, 3, 4, 5 – wirkt, setzen die selektiven Modulatoren Ozanimod und Siponimod and den Subrezeptoren 1 und 5 an und Ponesimod nur am Subrezeptor 1.

Ozanimod ist zugelassen bei schubförmig remittierend verlaufender MS und führte in Studien im Vergleich zu Interferon beta-1a zu einer signifikanten Reduktion der jährlichen Schubrate und neuen oder sich vergrössernden T2-Läsionen. Das Präparat senkt die Lymphozytenzahl um 45 Prozent, bei Fingolimod sind es 70 Prozent. Die Halbwertszeit (HWZ) beträgt 21 Stunden. Es kommt jedoch zu einer extensiven Metabolisierung mit einer HWZ der genauso wirksamen Metaboliten von elf Tagen. Nach Absetzen von Ozanimod müssen Frauen mit Kinderwunsch daher drei Monate lang verhüten, bei Fingolimod sind es zwei Monate.

Ozanimod beeinflusst weniger die kardiale Reizleitung, kann aber eine Bradykardie verursachen. Vor Therapiebeginn ist ein EKG obligat zur Selektion von Patienten, die ein First-dose-Monitoring benötigen. Dies ist notwendig z.B. bei Bradykardie <55/min, AV-Block I, St. n. Myokardinfarkt oder Herzinsuffizienz. Vorsicht ist auch bei Diabetes mellitus geboten sowie bei Uveitis oder Netzhauterkrankungen in der Vorgeschichte, da diese Patienten ein höheres Risiko haben, unter der Behandlung ein Makulaödem zu erleiden.

Nur noch eine Woche lang verhüten mit Ponesimod

Ponesimod ist zur Behandlung der aktiven schubförmig remittierenden MS zugelassen. Die Aktivität muss dabei nicht näher spezifiziert werden. In Studien diente Teriflunomid als aktiver Komparator. Wie Stefanie Müller berichtete, war hier zum ersten Mal die Verbesserung der MS-assoziierten Fatigue auch als Endpunkt gewählt. Hier zeigte sich Ponesimod überlegen. Die Halbwertszeit von Ponesimod beträgt 33 Stunden. Damit müssen Patientinnen nach der Therapie nur noch eine Woche lang verhüten. Im Vorfeld obligat sind ein EKG und eine ophthalmologische Untersuchung. Die Überwachung muss, wenn Kontraindikationen für eine ambulate Gabe bestehen nur über vier statt über sechs Stunden wie bei den anderen SP1-Rezeptor-Modulatoren erfolgen.

Wahrscheinlich gibt es unter Ponesimod keine relevanten Interaktionen. Bei Ozanimod ist vor allem auf eine Interaktion mit Clopidogrel zu achten.

Natalizumab kann First-Line zum Einsatz kommen

Natalizumab ist zwar nicht neu, aber es gibt eine angepasste Indikation und eine neue Applikationsform. Das Medikament ist nun First-Line bei aktiver schubförmiger MS mit negativem Anti-JCV-Antikörperstatus zugelassen. Vorher mussten die Patienten ein Therapieversagen auf immunmodulatorische Therapien zeigen oder eine hochaktive Erkrankung haben.

«Es ist ein grosser Fortschritt, dass wir die Patienten mit der hochwirksamen Substanz von Beginn an behandeln können», so die Referentin. Neu ist auch die subkutane Applikationsform. Dabei sollten die Patienten von der 1.–6. Injektion über eine Stunde in der Praxis nachbeobachtet werden. Ab der 7. Injektion liegt dies im Ermessen des Arztes. Der Wechsel von i.v. nach s.c. ist jederzeit möglich. Die Applikation des Medikamentes muss jedoch noch immer in einer Praxis oder Klinik erfolgen. Pharmakodynamik und -kinetik sind bei beiden Applikationen gleich.

Substanzen nach Komorbiditäten oder Kinderwunsch auswählen

Zum Schluss wies die Neurologin darauf hin, dass sich Indikationen und Limitationen in der Schweiz und im EU-Raum unterscheiden. Eine Publikation aus dem Jahr 2019 weist auf die Besonderheiten der Immuntherapie der MS in der Schweiz hin (4). Die Aktualisierung ist in Bearbeitung.

Angesichts der mittlerweile unübersichtlichen Zahl an Medikamenten wird die Auswahl zunehmend schwierig. «Wir versuchen, je nach Komorbiditäten oder bestehendem Kinderwunsch eine Vorauswahl zu treffen und über zwei oder drei Medikamente zu beraten», so die Expertin.

Referenzen