Medical Tribune
30. März 2022Familiendrama Trockenwerden

Einnässen: Wie man organische und funktionelle Ursachen behandelt

Wenn Kinder nicht so schnell trocken werden wie erwartet, suchen viele Eltern ärztlichen Rat. Eine neue Leitlinie zeigt auf, inwieweit das Einnässen ganz normal ist, wann Klärungsbedarf herrscht, und wie Abklärung und Differenzialdiagnostik gelingen.

Werden Kinder nicht trocken, ist guter Rat teuer
iStock/Petri Oeschger

Bei der Harninkontinenz im Kindesalter sind zwei Formen zu unterscheiden: Der kontinuierlich auftretende Urinverlust wird fast immer somatisch ausgelöst und sollte deshalb sorgfältig abgeklärt werden (Fehlbildung, neurogene Blasendysfunktion etc.). Ein intermittierendes Einnässen während des Tages ist dagegen meist funktionell bedingt. Wenn das Kind im Schlaf Harn lässt, spricht man von einer Enuresis – unabhängig von Pathogenese und Tageszeit (auch während der Mittagsruhe).

Hin und wieder ist im Vorschulalter normal

Beide Formen der intermittierenden Harninkontinenz gelten bis zum vollendeten fünften Lebensjahr als physiologisch – sofern eine körperliche Ursache ausgeschlossen ist. Auch jenseits dieser Altersgrenze besteht ein Störungswert erst, wenn das Symptom innerhalb eines Vierteljahres mindestens einmal monatlich auftritt, heisst es in einer neuen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) (1). Dann spricht man entweder von einer funktionellen Harninkontinenz am Tag oder einer Enuresis (s. Kasten).

Funktionelle Harninkontinenz

  • häufig: überaktive ­Blase, Miktionsaufschub, Detrusor-Sphinkter-Dys­koordination
  • selten: unteraktive ­Blase, Belastungsinkontinenz, Lachinkontinenz, erhöhte diurnale Miktionsfrequenz

Enuresis

  • primär monosymptomatisch (MEN): Einnässen nur im Schlaf, nie länger als sechs Monate trocken
  • primär nichtmonosymptomatisch (NMEN): zusätzlich Symptome einer Blasendysfunktion
  • sekundär monosymptomatisch: nur Enuresis, aber schon einmal länger als sechs Monate trocken
  • sekundär nichtmonosymptomatisch: zusätzlich Blasendysfunktion, vor dem Rückfall mindestens sechs Monate kontinent

Ursache bestimmt die Therapie

Die Enuresis wird als primär eingestuft, wenn ein Kind nie länger als ein halbes Jahr trocken war, bevor es zum Rückfall kam (s. Kasten). Nässt ein Kind im Schlaf und tagsüber ein, erhält es zwei Diagnosen: Eine nichtmonosymptomatische Enuresis nocturna und die nichtorganische Harninkontinenz am Tag.
Als häufigste Ursachen für ein funktionell bedingtes Einnässen nennt die Leitlinie drei Diagnosen:

  • hyperaktive Blase,
  • Harninkontinenz mit Miktionsaufschub und
  • Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination.

Erst die genaue Zuordnung ermöglicht eine wirksame Therapie. Auch etwaige Komorbiditäten müssen mitbehandelt werden. So können psychische Störungen wie ADHS die Adhärenz der jungen Patienten empfindlich beeinträchtigen, und Blasenentzündungen verleiten häufig zum Miktionsaufschub.

Eine besondere Rolle spielt die Kombination von Störungen der unteren Harnwege mit Obstipation und Stuhlinkontinenz. Diese sogenannte «Bladder and Bowel Dysfunction» (BBD) führt oft zu rezidivierenden Infekten und massiven psychosozialen Konsequenzen.

Mithilfe der Basisdia­gnostik lassen sich die häufigsten Ursachen einer kindlichen Harninkontinenz (tagsüber und nachts) mit hoher Sicherheit erfassen. Sie ermöglicht eine Differenzierung zwischen organischen und funktionell bedingten Störungen bzw. den verschiedenen Formen der Enuresis (mit oder ohne Tagessymptome).

Am Anfang stehen Protokolle zu Miktion und Darmentleerung

An erster Stelle steht eine sorgfältige Anamnese, die durch Fragebögen erleichtert werden kann. Sinnvoll ist ein Screening auf Symptome, psychische Veränderungen und stattgehabte Therapieversuche. Mit einem Blasentagebuch lassen sich Miktions- und Trinkmengen erfassen. Ausserdem empfiehlt die Leitlinie ein 14-Tage-Protokoll (Strichliste), in dem neben den Harn­inkontinenzepisoden Darmentleerungen, Stuhlschmieren und Einkoten dokumentiert werden. Zur Urindiagnostik genügt meist ein Streifentest.

Bei der körperlichen Untersuchung sollte neben der Inspektion von Anus und Genitale (Phimose, Vulvitis, Labiensynechie etc.) besonders auf Hautveränderungen im Bereich von Lendenwirbelsäule und Os sacrum (Spina bifida occulta etc.) geachtet werden. Die Sonografie von Nieren und ableitenden Harnwegen ermöglicht den Ausschluss organischer Veränderungen und eine Bestimmung von Blasenvolumen und Rektumweite. Bei Inkontinenz am Tag oder Enuresis mit zusätzlichen diurnalen Symptomen wird eine Restharnbestimmung angeraten. Eine verdickte Blasenwand kann als Folge einer Zystitis oder neurogenen Entleerungsstörung auftreten, aber auch auf eine funktionelle Dysfunktion hinweisen (z.B. Miktionsaufschub, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie). Bei Jungen muss man zudem mit einem subvesikalen Hindernis rechnen (Harnröhrenklappen bzw. -stenose).

Wenn die Basisdiagnostik Hinweise auf eine organische Genese ergibt, sollte das Kind zur weiteren Abklärung in eine spezialisierte Einrichtung überwiesen werden. Liegt eine monosymptomatische Enuresis vor, ist keine Zusatzdiagnostik erforderlich. Junge Patienten mit Inkontinenz am Tag und zusätzlicher Enuresis sollten bei wiederholt nachweisbarer Restharnbildung oder anderen Veränderungen genauer abgeklärt werden.

Referenz
  1. S2k-Leitlinie der DGKJ und DGKJP «Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen», Dezember 2021, AWMF-Register-Nr. 028-026, www.awmf.org