Medical Tribune
1. Sept. 2021First-in-class-Nanobody verhindert Todesfälle bei aTTP

Cablivi® (Caplacizumab) mit dem Prix Galien Suisse 2021 ausgezeichnet

Der Prix Galien Suisse in der Kategorie «Orphan Diseases» geht in diesem Jahr an Caplacizumab (Cablivi®) von Sanofi Genzyme. Es handelt sich um das erste und bisher einzige spezifische Arzneimittel zur Behandlung der erworbenen thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura.1

Zur Begründung des Entscheids erklärte Professor Dr. Hans-Jürg Beer, Mitglied der Jury des Prix Galien Suisse: «Cablivi® ist ein innovativer selektiver, bivalenter First-in-Class Nanobody. Ursprünglich im Dromedarblut entdeckt, binden Nanobodies an die A1-Domäne des von-Willebrand-Faktors, hemmen die Bindung an Glykoprotein(GP) Ib und unterbinden damit das pathophysiologische Prinzip der erworbenen thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (aTTP), die Bindung von ultralangen vWF-Molekülen an GPIb. Damit können Plättchenthromben und Thrombosen verhindert werden. Nanobodies sind stabil, klein, löslich und können in geringem Umfang in das Gewebe penetrieren.»

Über den Prix Galien

Der national und international renommierte Prix Galien wird seit über 40 Jahren jährlich für besonders innovative Forschungsleistungen der Pharmaindustrie verliehen. Stifterin in der Schweiz ist die Medical Tribune. Bewerben können sich Pharmafirmen mit Präparaten, die mindestens seit einem Jahr auf dem Schweizer Markt zugelassen sind. Die Bewerbungen werden von einer nationalen Jury beurteilt, die aus Experten verschiedener Fachrichtungen besteht. Seit 2018 wird der Prix Galien Suisse in drei Kategorien ausgeschrieben:

  1. Primary & Speciality
  2. Cancer
  3. Orphan Diseases.

Die klinische Symptomatik ist vielfältig

Die aTTP ist eine immunvermittelte Gerinnungsstörung, bei der Antikörper gegen das Enzym ADAMTS13 gebildet werden und dadurch dessen Aktivität abnimmt. In der Folge werden die ultralangen von-Willebrand-Faktor-Multimere nicht mehr gespalten, es kommt zur Akkumulation und zu einer vermehrten Bindung von Thrombozyten. Die Bildung einer Vielzahl von thrombozytenreichen Mikrothromben in den Arteriolen und Kapillaren führt zu einer Thrombozytopenie und einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie. Organschäden und thromboembolische Komplikationen wie Schlaganfall und Myokardinfarkt können die Folge sein. Die Inzidenz dieser Erkrankung beträgt in Europa jährlich 1,5–6 Fälle pro 1 Million Einwohner. Betroffen sind vor allem ansonsten gesunde Erwachsene im Alter von durchschnittlich 40 Jahren, Frauen etwas häufiger als Männer.

Die klinischen Symptome sind vielfältig: Neben neurologischen Auffälligkeiten wie Kopfschmerzen, Verwirrtheit oder Schwindel, Hämorrhagien und gastrointestinalen Beschwerden können auch kardiale Symptomen wie Tachykardie, Hypertonie oder Myokardinfarkt und renale Manifestationen, etwa Proteinurie und Hämaturie auftreten.

Caplacizumab darf nur in Kombination mit den bisher üblichen Massnahmen, Plasmapherese und Immunsuppression zum Einsatz kommen.

Jury Prix Galien Suisse 2021

  • Prof. Dr. Christoph Renner, Zürich, Präsident der Jury
  • Prof. Dr. Dr. h. c. Walter F. Riesen, Diessenhofen, stellvertretender Jury-Präsident
  • Prof. Dr. Jürg Hans Beer, Baden
  • Prof. Dr. Reto W. Kressig, Basel
  • Prof. Dr. Jörg D. Leuppi, Liestal
  • Prof. Dr. Christian Ludwig, Basel
  • Prof. Dr. Georg Noll, Zürich
  • Prof. Dr. Thomas Szucs, Basel/Zürich

HERCULES: umfangreichste Studie bei aTTP

Auch unter der Behandlung mit Plasmapherese und Immunsuppression beträgt die Mortalitätrate der aTTP 8–20 %.2 Die Entwicklung von Cablivi zielte darauf ab, diese immer noch hohe Rate zu reduzieren. Grundlage für die Zulassung waren die Phase-II-Studie TITAN3 mit 75 Teilnehmern und die Phase-III-Studie HERCULES4 mit 145 Patienten. In beiden Studien führte die Behandlung mit Caplacizumab im Vergleich zu Placebo zu einer signifikant beschleunigten Normalisierung der Thrombozytenzahl, einer Senkung der Rezidivrate und einer Verkürzung der Spitalaufenthalte. Unter der Behandlung mit Caplacizumab war zudem kein aTTP-assoziierter Todesfall zu verzeichnen, in der Placebogruppe kam es zu fünf Todesfällen.

Die randomisierte, placebokontrollierte, multinationale Doppelblindstudie HERCULES ist bisher die umfangreichste auf dem Gebiet der aTTP. Primärer Endpunkt war die Dauer bis zum Abklingen der akuten aTTP-Episode, definiert als Zeit bis zur Normalisierung der Thrombozytenzahl auf ≥ 150 × 109/l mit anschliessendem Stopp der täglichen Plasmapherese-Behandlungen innerhalb von fünf Tagen.

Als zusammengesetzter sekundärer Endpunkt war die Anzahl der aTTP-Rezidive, schwerwiegende thromboembolische Ereignisse oder aTTP-bedingter Todesfall während der Behandlung definiert. Zusätzlich zur Studienmedikation erhielten die eingeschlossenen Patienten die bisherige Standardtherapie aus Plasmapherese und Immunsuppression. Nach Randomisierung bekamen die Teilnehmer vor der ersten Plasmapherese einen i.v.-Bolus Cablivi® (10 mg) oder Placebo und in der Folge nach jeder Plasmapherese eine subkutane Injektion von ebenfalls 10 mg. Die Therapie wurde nach der letzten Plasmapherese noch 30 Tage mit einer Injektion pro Tag fortgeführt.

Patienten der Caplacizumab-Gruppen hatten eine 74 % geringere Wahrscheinlichkeit aTTP-bedingte schwerwiegende Ereignisse zu erleiden. Rezidive während des gesamten Studienzeitraums waren um 67 % verringert. Zudem benötigten die Patienten durchschnittlich 5,8 Tage lang eine Plasmapherese, im Vergleich zu 9,4 Tagen in der Kontrollgruppe, was einem um 38 % verkürzten Behandlungszeitraum entsprach. Zudem verringerte sich die Zeit auf der Intensivstation um 65 % (3,4 vs. 9,7 Tage) und die Dauer der Hospitalisierung um 31 % (9,9 vs. 14,4 Tage).

  1. Fachinformation Cablivi® auf www.swissmedicinfo.ch
  2. Goel R et al. Prognostic risk-stratified score for predicting mortality in hospitalized patients with thrombotic thrombocytopenic purpura: nationally representative data from 2007 to 2012 Transfusion 2016; 56(6): 1451–1458.
  3. Peyvandi F et al. Caplacizumab for Acquired Thrombotic Thrombocytopenic Purpura. N Engl J Med. 2016; 374(6): 511–522.
  4. Scully M et al. Caplacizumab Treatment for Acquired Thrombotic Thrombocytopenic Purpura. N Engl J Med. 2019; 380: 335–346.