Medical Tribune
18. März 2020Überschätztes Eutersekret

Milch ist für eine gesunde Ernährung nicht zwingend nötig

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Milch wird gerne als gesundes Lebensmittel propagiert. Dass das Eutersekret der Kühe aber wirklich die Gesundheit fördert, kann eine Milchmädchenrechnung sein.

Nach US-amerikanischen Empfehlungen sollten Erwachsene und Kinder ab neun Jahren täglich drei 237-ml-Portionen Milch, Joghurt, Käse oder ähnliche Produkte zu sich nehmen, um die Kalzium-Versorgung zu gewährleisten und das Risiko für spätere Knochenbrüche zu minimieren. Dass das zum Ziel führt, bezweifeln Professor Dr. Walter C. Willett­ und Professor Dr. David S. Ludwig von der Harvard Medical School in Boston. Es könnten sogar gegenteilige Effekte entstehen. Daher sollte sich der Milchkonsum besser an den allgemeinen Ernährungsbedingungen orientieren und zwei Portionen nicht übersteigen.

Kein Schutz vor Knochenbrüchen

Zwar enthält Kuhmilch viele essenzielle Nährstoffe wie Kalzium, Kalium und Phosphor und kann einen wertvollen Beitrag leisten, z.B. in Form von Säuglingsfläschchennahrung oder wenn die Nahrungsqualität grundsätzlich schlecht bzw. einseitig Kohlenhydrat-lastig ist. Trotzdem ist sie nicht zwingend nötig für eine gesunde Entwicklung, solange die Zufuhr der Vitamine B12 und D stimmt. Ein Verzicht kann sogar gerade bei Kindern sinnvoll sein, die familiär bedingt ein erhöhtes Allergie-Risiko haben.
Des Weiteren handelt es sich bei Milch auch um einen Cocktail von wachstumsfördernden Hormonen und Aminosäuren. Ob der Effekt tatsächlich darauf zurückzuführen ist, bleibt unklar – Fakt ist aber: Milch führt selbst bei adäquater Ernährung zu grösserem Längenwachstum. Und grössere Menschen haben zwar ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber ein höheres für Krebs, Hüftfrakturen und Lungenembolien.

Einen Schutz vor Knochenbrüchen durch das Kalzium in der Milch halten die Ernährungs­experten für abwegig. So basieren die internationalen Werte für die empfohlene Tageszufuhr von derzeit 500–1000 mg für Erwachsene auf Studien, die insgesamt nur 155 Teilnehmer mit ohnehin schon hoher Kalzium-Aufnahme einschlossen und lediglich zwei bis drei Wochen dauerten. Dabei ist unter anderem bekannt, dass bei niedrigeren Mengen die Kalzium-Adsorption gesteigert und dadurch die Bilanz ausgeglichen sein kann. Ausserdem profitiert die Knochendichte nur innerhalb des ersten Jahres von einer hohen Zufuhr des Minerals.

Fettreduzierte Produkte bringen wohl nichts

Insgesamt ist die Knochendichte nicht mit der Kalzium-Zufuhr assoziiert, und weder bei Mengen von unter 555 mg bis über 1100 mg Kalzium täglich noch beim Ausmass des Milchkonsums besteht ein Zusammenhang zum Hüftfraktur-Risiko. Bei Männern steigt es laut zweier Kohortenstudien im Alter sogar – und zwar um 9 % mit jedem Glas Milch, das sie während der Jugend täglich getrunken haben.

Auch die Empfehlung, möglichst auf fettreduzierte Produkte zurückzugreifen, sehen die Autoren kritisch. Mit ihnen lässt sich das Körpergewicht nicht besser kontrollieren als mit Vollmilchprodukten. Bei Kindern scheinen sie langfristig sogar eher eine stärkere Gewichtszunahme zu bewirken. Auch für die Annahme, fettarme Milch wirke sich besser auf die Blutfette aus, fehlen bislang überzeugende Beweise.

Weder für Vollmilch- noch für fettreduzierte Produkte besteht eine klare Assoziation mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Herzinfarkt. Vermutlich kommt es darauf an, welchen Teil des Speiseplans man durch Milch ersetzt. So liegt das Risiko für eine Erkrankung zwar unter dem von rotem Fleisch, aber über dem von Fisch oder pflanzlichen Fetten.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Gesamtmortalität. Lediglich bei bestimmten Krebserkrankungen sind klare Zusammenhänge belegt. So steigert ein hoher Konsum von Milchprodukten klar das Risiko für Prostatakrebs, und hier besonders für aggressivere Formen. Auch Endometriumkarzinome sind häufiger. Beides lässt sich gut mit den Hormonen in der Milch in Einklang bringen. Schutz scheint in dem Fall tatsächlich das Kalzium zu bieten, nämlich gegen Darmkrebs.

Willett WC, Ludwig DS., N Engl J Med 2020; 382: 644–654.