Medical Tribune
31. Okt. 2017

Echte Gefahr oder Einbildung?

LONDON – Etwa jeder zehnte Patient behauptet, er hätte eine Penicillinallergie. Von ihnen reagiert aber nur jeder Fünfte tatsächlich allergisch auf Betalactam-Antibiotika. Wie lassen sich die wirklich Betroffenen identifizieren?

Als Risikofaktor für eine Penicillin­allergie gilt die häufige Exposition gegenüber diesen Antibiotika. Auch höheres Lebensalter und weibliches Geschlecht sollen die Entwicklung einer Allergie fördern, reflektieren aber evtl. nur den vermehrten Antibiotikagebrauch in diesen Kollektiven, schreiben Experten des Drug and Therapeutics Bulletins, London.

Zwei Verlaufstypen der Penicillin-Allergie werden unterschieden:

  1. Reaktionen vom Soforttyp beginnen in der Regel innerhalb von 60 Minuten nach dem Allergenkontakt, spätestens nach ein bis sechs Stunden. Sie manifestieren sich mit den üblichen Symptomen einer IgE-vermittelten Allergie – von Pruritus und Urtikaria bis zur Anaphylaxie.
  2. Die verzögerten Reaktionen zeigen sich üblicherweise erst Tage nach der Penicillingabe, auf jeden Fall aber mit mehr als 60 Minuten Abstand. Ihnen liegt eine T-Zell-Aktivierung zugrunde. Infolge der Zytokinfreisetzung kommt es meist zu makulopapulösen, morbilliformen oder urtikariellen Exanthemen. In seltenen Fällen kann eine Penicillinallergie potenziell tödliche Arzneimittelreaktionen, etwa ein Stevens-Johnson-Syndrom, auslösen.

Nicht jeder, der gelegentlich ein Antibiotikum nimmt, muss seine vermutete Penicillinallergie verifizieren lassen. Wichtig ist dies vielmehr für Patienten, die häufig mit Antibiotika behandelt werden, z.  B. Dia­betiker und Immunsupprimierte. Auch bei «multipler Antibiotika-Allergie» scheint genauere Diagnostik sinnvoll, ebenso wenn ein spezielles Betalactam eingesetzt werden soll und wenn es nach Gabe mehrerer Medikamente einschliesslich eines Penicillins zu einer anaphylaktischen Reaktion kam.


Zeitig zum Spezialisten,
sonst droht falsches Ergebnis


Der erste Schritt zur Diagnose ist auch bei der Penicillinallergie die Anamnese. Mit wenigen gezielten Fragen kann man z. B. zwischen Reaktionen vom Sofort- und vom Spättyp differenzieren. Auch die Einschätzung des Schweregrads ist möglich. Bei länger zurückliegenden Reaktionen helfen mitunter Krankenakten, Fotografien und Zeugenaussagen.

Hauttests liefern vor allem bei Erwachsenen wichtige Hinweise auf IgE- oder T-Zell-vermittelte Reaktionen. Sie sollten in speziellen Zentren erfolgen, da die Interpretation der Resultate ebenso wie das Management systemischer Reaktionen erhebliche Erfahrung erfordert. Sinnvoll ist zudem eine zeitnahe Testung, da es mit zunehmendem Abstand zum Ereignis häufiger zu negativen Ergebnissen kommt. Bei Kindern sind Hauttests vor allem nach anaphylaktischen Reaktionen sinnvoll, weniger nach verzögert aufgetretenen Manifestationen.

Das spezifische IgE hat bei der Penicillinallergie nur einen geringen Stellenwert. Bei Personen mit typischer Anamnese, aber negativem Hauttest dient die orale Provokation dem Nachweis bzw. Ausschluss der Penicillinallergie. Sie sollte wiederum nur in speziellen Zentren durchgeführt werden. Als Kontra­indikationen gelten u. a. ein erhöhtes Risiko für lebensgefährliche (Haut-)Reaktionen, aber auch ein instabiles Asthma und die Einnahme von Betablockern. Bei positivem Haut- oder Provokationstest ist die Allergie gesichert, der Patient muss Penicillin künftig meiden. Fallen beide Tests negativ aus, ist der Allergieverdacht vom Tisch.

Bei Patienten mit IgE-vermittelter Penicillinallergie kann man heute mit einer Desensitivierung eine zeitlich begrenzte Toleranz erzielen. Diese Möglichkeit sollte jedoch nur in dringenden Fällen, wenn keine medikamentöse Alternative zur Verfügung steht, genutzt werden, schreiben die Bulletin-
Autoren. Bei Patienten mit einer Allergie auf eine bestimmte Penicillin-Seitenkette kann man auf ein Betalaktam-Antibiotikum mit einer anderen Seitenkette ausweichen. Sind alle Betalactam-Antibiotika kontraindiziert, kommen als Alternativen Tetrazykline, Metronidazol, Makrolide, Aminoglykoside, Chinolone und Glykopeptid-Antibiotika infrage.

Ungeklärter Verdacht fördert resistente Keime

Die Abklärung des Allergieverdachts ist gleich doppelt wichtig: Denn nach einem fraglichen Ereignis kann jede erneute Einnahme von Penicillin eine schwere Reaktion auslösen. Umgekehrt führt der ungeklärte Verdacht zur Verordnung resistenzträchtiger Antibiotika und in der Folge zu vermehrtem Auftreten von C. difficile, MRSA und VRE. Falsche Zuschreibungen müssen deswegen unbedingt vermieden werden. Eine suspekte oder nachgewiesene Penicillinallergie sollte immer in den Krankenakten vermerkt und in der gesamten Korrespondenz zwischen Haus- und Fachärzten aufgeführt werden. Konnte man den Allergieverdacht ausräumen, ist auch das zu dokumentieren.

Drug and Therapeutics Bulletin,
BMJ 2017; 358: j3402.