Medical Tribune
16. Jan. 2013sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz

Wenn Demenzkranke sexuell entgleisen

Es kann es passieren, dass der demente Vater in aller Öffentlichkeit onaniert oder der Pflegekraft in den Po kneift. Für Angehörige führt das zu ausserordentlichen Belastungen und die Scham ist gross.

Bis 18 Prozent der Demenzpatienten zeigen sexuelle Verhaltenauffälligkeiten

Die häufigste Form der sexuellen Störung bei Demenz ist wahrscheinlich der Libidoverlust – dies wird in der Regel aber nicht thematisiert, schreibt Dr. Christian Kämpf von der Fachklinik für Alterspsychiatrie am Psychiatriezentrum Münsingen.

Zum Thema "sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz" führte der Psychiater eine Literaturrecherche durch. Dabei zeigte sich, dass bereits die Definition nicht einheitlich ist und Prävalenzraten zwischen 1,8 % und 18 % angegeben werden.

Sexuelle Zusammenstösse mit Angehörigen und Pflegepersonal

Als Hypersexualität fasst man sowohl ein gesteigertes sexuelles Interesse als auch unangebrachtes sexuelles Verhalten zusammen. Dazu gehören z.B. zwanghaftes Onanieren (privat und in der Öffentlichkeit), anzügliche Bemerkungen, Berühren der Brüste und anderer intimer Körperbereiche von Pflegenden, Angehörigen und Mitpatienten, öffentliches Entblössen bis hin zu erzwungenen sexuellen Handlungen mit anderen.

Solche Störungen werden v.a. bei Männern beobachtet. Patienten mit vaskulären, frontotemporalen und parkinsonassoziierten Demenzen scheinen häufiger betroffen zu sein als Alzheimer-Patienten. Wie kommt es zur sexuellen Enthemmung? Verschiedene Hirnregionen können beteiligt sein.

Sexuelle Enthemmung durch Demenz ausgelöst

Mit dem Auftreten von Hypersexualiät in Verbindung gebracht werden beispielsweise Schädigungen im Frontalhirn, bilaterale Temporallappenschäden als Folge einer Enzephalitis oder Erkrankungen, bei denen das Stria­tum mit betroffen ist, etwa Chorea Huntington, Morbus Wilson, Tourette-Syndrom. Auch Medikamente können eine Rolle spielen: So ist z.B. unter Antiparkinsonmedikamenten ein Wiederaufflammen des sexuellen Interesses beschrieben.

Völlig falsch wäre es, sexuelle Störungen, die erst während der Demenz zutage treten, als Charakterschwäche zu interpretieren. Mit früheren sexuellen Neigungen haben die Störungen in der Regel nichts zu tun. Die Aufklärung darüber kann für Angehörige sehr entlastend sein.

Um das Problem in den Griff zu bekommen, werden an erster Stelle Verhaltens- und milieutherapeutische Massnahmen empfohlen, z.B.:

  • Pflege durch eine Person, die auf den Patienten möglichst nicht sexuell anziehend wirkt
  • Feedback über Unangemessenheit des Verhalten
  • entschlossenes Auftreten
  • Ablenken z.B. durch Beschäftigung
  • Kleidung, die sich schwer ausziehen lässt
  • Milieuwechsel (z.B. Wechsel der Station)
  • gute Information vor und während der Körperpflege
  • einheitliche Haltung aller Pflegenden
  • erwünschtes Verhalten verstärken, unerwünschtes ignorieren

Keinesfalls sollten aufgrund der sexuellen Verhaltensstörungen die Patientenkontakte reduziert werden, dies kann die Symptomatik noch verstärken. Generell sind bei Patienten mit sexueller Enthemmung auch medikamentöse Massnahmen möglich. Doch meist ist man hier auf Einzelfallberichte und kleinere Fallserien angewiesen.

Sexuelle Verhaltensstörungen: Mit SSRI beginnen

Mehrere Autoren empfehlen, zuerst mit den nebenwirkungsärmsten Medikamenten zu beginnen, z.B. selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), die eine libidohemmende Wirkung am 5-HT2-Rezeptor aufweisen. Diese Therapie empfiehlt sich insbesondere bei Patienten, die gleichzeitig unter Depressionen oder Zwangsstörungen leiden.

Auch Gabapentin zeigte bei verschiedenen demenzassoziierten Verhaltensstörungen eine günstige Wirkung, so die Autoren. In der Praxis werden häufig Cholinesterasehemmer eingesetzt, die die Problematik der Hypersexualität aber zum Teil auch verstärken können. Mit Neuroleptika und Benzo­diazepinen versucht man ebenfalls, den Sexualtrieb einzudämmen.

Antiandrogene als letzter Ausweg

Wenn diese Massnahmen keinen Effekt zeigen und die Situation untragbar wird, kommt eine Verordnung von Antiandrogenen infrage, beispielsweise von Medroxyprogesteronacetat (MPA) oder Cyproteronacetat (CPA). Auch Östrogene, LHRH-Antagonisten und Medikamente mit antiandrogenen Nebenwirkungen wie Cimetidin, Ketoconazol oder Spironolacton werden bei dieser Indikation zum Teil angewandt. Bei allen antiandrogenen Therapieansätzen muss man aber Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Gewichtszunahme, Gynäkomastie oder verminderte Knochendichte ins Kalkül ziehen.

Quelle:
Christian Kämpf et al., Fortsch Neurol Psych­iatr 2012; 80: 580-588