Medical Tribune
23. Sept. 2022Urologie

Inkontinenz beim Mann: Diagnose und Therapie

Die Hauptursache der männlichen Harninkontinenz ist die radikale Prostatektomie, nach der die meisten Männer am Anfang Probleme haben. Doch bei den allermeisten verbessert sich die Kontinenz binnen eines Jahres. Und auch den anderen kann man oft helfen.

Nach einer radikalen Prostatektomie leiden die meisten Männer am Anfang unter Inkontinenz.
Liia Galimzianova/gettyimages

Bei den Ursachen der Harninkontinenz beim Mann steht die radikale Prostatektomie (rPx) ganz vorne.

Dr. Fabian Queissert leitet den Bereich Neurourologie und das Kontinenzzentrum am Universitätsklinikum Münster. Rund 90 Prozent der Patienten, die bei ihm vorstellig werden, weil sie ihren Urin belastungsbedingt ganz oder teilweise nicht mehr halten können, haben diese Operation hinter sich.*

Fünf bis 60 Prozent leiden nach rPx unter Kontinenzproblemen

«Eine gute Schätzung, wie viele Männer nach der rPx unter Kontinenzproblemen leiden, sind fünf Prozent», berichtet Dr. Queissert. Zählt man aber auch Fälle, bei denen wenige Tropfen bereits als Urinverlust gelten, steigt die Zahl auf rund 60 Prozent.

Neben den rPx-Patienten haben Männer aber auch nach Bestrahlung oder mit transurethraler Prostataresektion gelegentlich Kontinenzprobleme. In seltenen Fällen stehen auch neurologische Störungen oder eine Neoblase im Vordergrund.

Wie gut das Kontinenzergebnis nach einer rPx ist, hängt vor allem davon ab, wie die Operation verlaufen ist. So schwankt die Qualität des Ergebnisses mit dem Operateur. Risikofaktoren für ein schlechteres Kontinenzergebnis sind aber auch ein höheres Patientenalter, Adipositas, und eine grosse Prostata, bei deren Entfernung es häufig Probleme durch eine erschwerte Präparation gibt. Aber auch eine Prostataausschälung bzw. - enukleation verschlechtert das Outcome. Die schlechtesten Karten haben Patienten, die eine Salvage-Prostatektomie benötigen (1).

Zusätzlich spielen bei der Wiedererlangung der Kontinenz auch weitere Faktoren wie der sozioökonomische Status und Komorbiditäten eine Rolle.

Schliessmuskel am Anfang überfordert

«Bei Kontinenzproblemen nach einer RpX muss man unterscheiden zwischen der Frühinkontinenz (0-1 Jahre post OP), und der Spätinkontinenz (>1 Jahr post OP)», so Dr. Queissert. Eine Frühinkontinenz haben eigentlich die meisten Patienten nach einer rPx. Sie ist bedingt durch eine postoperative Anpassungsstörung des Rhabdosphinkters, welcher mit der anfallenden Aufgabe zunächst überfordert ist. Darüber hinaus habenviele Männer aufgrund der Manipulation im Bereich des Trigonum vesicae Symptome einer überaktiven Harnblase .

Werden Männer innerhalb des ersten Jahres nicht trocken, liegt meist eine organische Ursache zugrunde. Eine weit verbreitete Theorie ist, dass durch die OP die Harnröhre disloziert, was zu einer Sphinkter-Fehllage führen kann. Weitaus häufiger ist laut Dr. Queissert aber ein Sphinkterdefekt. «Wir sehen das häufig als Fibrosierung – etwa aufgrund einer unsauberen Operation, zu viel Koagulation in diesem Bereich, einer schwierigen Anatomie, oder einer zusätzlichen Bestrahlung.» Eine weitere Rolle bei der Kontinenz kann auch eine gestörte Innervation über Fasern des Nervus pudendus spielen – sodass der Versuch eines Nerverhalts bei der RPx auch bei impotenten Männern erfolgen sollte.

Was den Schliessmuskel ebenfalls nachhaltig beeinträchtigt, ist eine zu kurze funktionelle Harnröhre (2). Je länger der Harnröhrenstumpf über dem Beckenboden gelassen werden kann, umso besser ist die Funktion. "Ist die membranöse Harnröhre bereits vor der OP vergleichsweise kurz, spielt auch das eine Rolle», erläutert Dr. Queissert. Es ist also nicht immer nur der Operateur schuld.

Kontinenztraining beschleunigt das Trockenwerden                         

Sind Patienten im ersten Jahr nach der rPx inkontinent, sollte im Regelfall zuerst eine konservative Therapie zum Zuge kommen. Diese lässt sich meist gut im niedergelassenen Setting durchführen.

Bei den vorhandenen Optionen ist für Dr. Queissert vor allem das postoperative Kontinenztraining «indiskutabel relevant». Eine randomisierte Studie bei 300 Patienten zeigte etwa, dass sich die Frühkontinenz durch das Training stark verbesserte, und die Patienten erlangten auch schneller die völlige Trockenheit wieder (3). In den Empfehlungen der European Association for Urology (EAU) hat die Massnahme daher den Level of evidence (LoE) des Grades 1. Dr. Queissert gibt jedoch zu bedenken, dass das Kontinenztraining nicht wirklich darüber entscheidet, ob ein Patient überhaupt trocken wird, sondern nur, wie schnell er die Kontinenz wiedererlangt.

Im Gegensatz zum postoperativen ist das präoperative Kontinenztraining nicht evidenzbasiert. Dieses wird zwar oft empfohlen, die vorhandenen Daten zeigen aber, dass sich die Kontinenzsituation dadurch nicht verbessert (z.B. 3). Man kann es den Patienten daher ersparen. Ausserdem erinnert der Experte, dass, das, was landläufig oft als «Beckenbodentraining» geführt wird, für die männliche Kontinenz irrelevant ist. «Der Beckenboden ist ja nicht das Problem.» Beim männlichen Kontinenztraining steht stattdessen der Schliessmuskel im Vordergrund. Ein reines Krafttraining kann sogar kontraindiziert sein, weil es zu einer Überlastung des Schliessmuskels führt und zusätzlich negative Zugsituationen hervorruft.

Elektrostimulation kann «Mann» machen

Eine weitere Behandlungsmöglichkeit für die frühe Inkontinenz ist die Elektrostimulation. Zu diesem Zweck wird der Rhabdosphinkter durch schwache Stromstösse stimuliert. Diese werden von einem Rektalkolkonus, sowie von kleinen Klebepads erzeugt, die auf dem Damm in der Nähe des Bulbus urethrae angebracht werden. Die EAU stufte die Elektrostimulation mit einem LoE von 2 ein. «Das kann ‹Mann› also machen», so Dr. Queissert.

Schlechter ist der Evidenzgrad hingegen beim Biofeedback, bei dem nur ein Rektalkonus angewendet wird (LoE 3). Das erklärt Dr. Queissert so: «Bei der weiblichen Inkontinenz funktioniert das ganz gut, weil man über den vaginalen Konus sehr gut den Beckenboden ansteuern kann. Beim Mann ist der Enddarm aber schon ein bisschen weiter vom Schliessmuskel entfernt als man das möchte.»

Eine weitere Möglichkeit ist Duloxetin, ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI), der aus der antidepressiven Behandlung bekannt ist. Der Wirkstoff verhindert die Wiederaufnahme von Noradrenalin im Sakralplexus, wodurch es zu einer Aktivitätsssteigerung pudendaler Motoneurone kommt. "Dazu gibt es gute placebokontrollierte randomisierte Studien, die eine gute Wirksamkeit nachweisen.»

Trotzdem ist es weder in der Schweiz noch in Deutschland offiziell für die männliche Harninkontinenz zugelassen; der in Deutschland tätige Dr. Queissert gibt an, es gelegentlich off label einzusetzen. Begonnen wird die Duloxetin-Therapie mit einer Einmal-Tagesdosis von 20 mg, was im Verlauf auf bis zu 80 mg gesteigert werden kann. Der Wirkstoff wird idealerweise morgens eingenommen, denn tagsüber bestehen die meisten Beschwerden – in der Nacht ist die Inkontinenz meist nicht so stark ausgeprägt.

Eine andere Herangehensweise, die die anfängliche Inkontinenz nach der OP verbessern kann, ist die Gabe von anticholinergen oder antimuskarinergen Wirkstoffen in den ersten Monaten. Besonders Patienten mit Symptomen einer überaktiven Harnblase (imperativer Harndrang, signifikante Nykturie) kann diese Therapie oft helfen.

Nach einem Jahr sind die konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft

«Die konservative Therapie spielt im ersten Jahr nach der OP eine Rolle», so Dr. Queissert. «Wenn sie ein Jahr lang nicht gefruchtet hat, ist man aber an dem Punkt, wo man konservativ wenig erreichen kann. Auch bei Patienten, die innerhalb der ersten 6-9 Monate trotz adäquater Behandlung keinerlei Fortschritte machen sollte man schon frühzeitig bedenken.» Dann kann – je nach Ursache der Kontinenzprobleme und Grösse der Leidensdrucks – eine chirurgische Option erwogen werden.

* WebUp Experten-Forum «Update Urologie», Aktuelle Behandlungskonzepte der Belastungsharninkontinenz beim Mann. 18. August 2022

Referenzen