Medical Tribune
14. Dez. 2016

Gefährliche Grauzone: Senioren am Steuer

BERLIN – «85-Jährige verwechselt Gas und Bremse und überrollt beim Einparkversuch den eigenen Ehemann» – solche Meldungen scheinen sich zu häufen. Die Diskussion um Tests für Senioren und einen möglichen Entzug des Führerausweises hat daher an Fahrt aufgenommen. 
Es ist nicht zu leugnen: Mit steigendem Alter nehmen auch bei Gesunden bestimmte kognitive Fähigkeiten ab und spätestens ab 75 Jahren sind Senioren häufiger Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden als andere Altersgruppen. 
Vor allem das altersbedingte Nachlassen sogenannter fluider kognitiver Funktionen lässt ältere Menschen am Steuer zur Gefahr werden, erklärte Professor Dr. med. Dipl. Psych. Dipl.-Ing. Michael 
Falkenstein vom Leibniz Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Für die Beherrschung von komplexen Verkehrssituationen haben vor allem Dinge wie geteilte Aufmerksamkeit, visuelle Suche, Inhibition von irrelevanten Reizen und Mehrfachtätigkeiten Relevanz. 
Im Schilder-Dschungel
die Kontrolle verlieren 
Die Funktion «Visuelle Suche» ist z. B. für die Wahrnehmung von Hinweisschildern von Bedeutung – Ältere werden durch diesen Suchvorgang stärker beansprucht und verlieren dadurch leichter die Kontrolle über das Fahrzeug. Auch beim gleichzeitigen Auftreten komplexer, unerwarteter Situationen schneiden sie im Durchschnitt schlechter ab – selbst wenn sie bei Routinefahrten noch sehr sicher zu sein scheinen. Schon bei 50- bis 65-Jährigen lassen sich im Schnitt bereits vermehrte Probleme bei Ablenkung, Mehrfachtätigkeiten und an stark befahrenen, unübersichtlichen Kreuzungen nachweisen. Allerdings gibt es in allen Jahrgängen eine grosse Varianz, sodass Alter allein kein Kriterium für den Entzug der Fahrerlaubnis sein kann, betonte der Experte. Und man muss immer bedenken, dass für Senioren Mobilität eine wichtige Voraussetzung für soziale Teilnahme sein kann – speziell in ländlichen Gebieten. Auch sonst tut man ihnen mit einem pauschalen Entzug des Fahrausweises nichts Gutes: Die Depressivität und Mortalität steigen danach deutlich an und die Betroffenen sind als Fussgänger oder auf dem Velo im Strassenverkehr noch viel stärker gefährdet als in der schützenden Blechkiste, sagte Prof. Falkenstein. 
Trotzdem: Spätestens, wenn die Älteren selbst oder ihre Beifahrer zunehmende Probleme im Strassenverkehr feststellen (s. Kasten), gilt es Massnahmen zu ergreifen. Dabei steht an erster Stelle eine Diagnostik in Bezug auf das Fahrverhalten. Einfache Screeningtests wie der Mini-Mental-Status-Test oder einzelne Funktionstests reichen hierfür nicht aus. Es erfordert schon eine ganze Batterie validierter psychomotorischer Tests, möglichst durch Verkehrspsychologen, um klare Aussagen treffen zu können. Deutlich besser eignet sich eine Testung im Realverkehr, wobei es aber nicht genügt, einmal um den Block zu fahren. Vielmehr müssen unterschiedliche und komplexe Situationen gecheckt werden – idealerweise sollte die Teststrecken an Unfallschwerpunkten liegen. Eine ungefährlichere Alternative bieten Überprüfungen auch komplexer Situationen im Fahrsimulator – allerdings gibt es dafür nur begrenzte Kapazitäten. Selbst bei erkennbaren Defiziten sollte der Entzug der Fahrerlaubnis immer nur die allerletzte Konsequenz sein, betonte der Experte. Ein spezielles Training mit etwa 15 Fahrstunden (mit Fokus auf Linksabbiegen, Spurwechsel und komplexe Kreuzungen) kann im Alter durchaus noch sinnvoll sein. 
Spezielles Training legt den Fokus u. a. auf Linksabbiegen 
In einer Studie mit 92 im Mittel 72 Jahre alten Patienten zeigte sich eine deutliche Besserung des Fahrverhaltens noch nach 12 Monaten, wobei zuvor «schlechte» Autofahrer besonders profitierten. Ein Simulatortraining verbesserte ebenfalls das Verhalten am Steuer. Für ein kognitives Funktionstraining ausserhalb des Autos fallen die Ergebnisse nicht ganz so eindeutig aus – es liessen sich aber zum Teil Verbesserungen erzielen.
Falls alles nicht fruchtet, bleibt immer noch die Möglichkeit der «eingeschränkten Fahrerlaubnis» z.B. mit dem Verbot von Nacht- und Dämmerungsfahrten oder einer Beschränkung auf den gut bekannten Rayon. Nicht zuletzt kann man daran denken, die Umgebung grundsätzlich etwas «seniorengerechter» zu gestalten – z.B. durch eine bessere Gestaltung von Hinweisschildern, eine unkompliziertere Verkehrslenkung an Kreuzungen und das Verbot von ablenkenden Werbetafeln an der Strasse. Auch spezielle Navis mit echtzeitigen Hinweisen können sinnvoll sein.

Maria Weiss

Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2016