Medical Tribune
29. Juni 2016Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Naturheilverfahren wirken wahre Wunder bei psychisch kranken Jugendlichen

An der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPP) im Klinikum Christophsbad, Göppingen, praktizieren die Therapeuten eine multidisziplinäre Herangehensweise, berichtete Chefarzt Dr. Markus Löble. Das Team aus Psychiatern, Psychologen, Pädagogen, Kreativtherapeuten, Sozialarbeitern und Pflegekräften widmet sich jungen Patienten mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen (s. Kasten).

7 Uhr aufstehen: Verletzung der Menschenrechte?

Gute Ernährung zählt neben Ordnungs-, Bewegungs-, Hydro-Thermo- und Phytotherapie zu den fünf Säulen der klassischen Naturheilverfahren nach Sebastian Kneipp. Schon in puncto Essen erlebe er Erstaunliches, so der Referent: "Siebenjährige z.B., die nicht wissen, wie man ein Ei aufmacht, weil sie noch nie ein Frühstücksei hatten."

Vor dem Frühstück heisst es für die jungen Patienten allerdings erst einmal "ab zum Naturheil-Programm". In der Gruppe mit bis zu 20 Kindern und Jugendlichen beginnt der Tag mit dem gemeinsamen Spaziergang – möglichst, barfuss, auch im Schnee! – durch den Park. "Diese 800 m stellen für manchen Jugendlichen, der immer im SUV zur Schule kutschiert wurde, den persönlichen Rekord dar", so Dr. Löble. Das Frühprogramm bringt u.a. ordnungstherapeutische/chronobiologische Effekte. "Morgens aufstehen und abends ins Bett gehen – das kann für psychisch kranke Kinder und Jugendliche bereits eine wichtige Intervention sein."

Der Barfussausflug selbst wirkt zudem hydro-, thermo- und bewegungstherapeutisch. Das Frühprogramm wird erstaunlich schnell akzeptiert – nach anfänglich lautem Gemecker inklusive Pochen auf die Menschenrechte. Allein die Uhrzeit (7.00 Uhr) "ist für den normalen 16-Jährigen schon ein Fall für Amnesty international".

Radtour mit Albaufstieg zu bewältigen macht froh

Wichtig auch der entspannungstherapeutische Aspekt: Gemäss dem Reiz-Reaktionsprinzip folgt nach Anspannung ("Barfuss-Folter") die Entspannung – "das beschert uns eine ganz andere Frühstücksatmosphäre", beschrieb es Dr. Löble. Dem Frühstück folgt der Besuch der Klinikschule, drei Lehrer stehen in dieser Schule zur Verfügung.

Während ihres stationären Aufenthaltes sind die Patienten viel auf Achse. Eine dreitägige Fahrradtour mit Albaufstieg – solche Erfahrungen bewirken mehr, als viele Stunden dem Therapeuten gegenüberzusitzen und sich zu fragen, "Was ist falsch an mir?", so der Psychiater.

Bergwandern z.B. bis zur Stuttgarter Hütte (2310 m) gehört ebenfalls zum Programm. "Das kennen Jugendliche nicht mehr und viele betrachten es definitiv als unmöglich, in so einer Umgebung länger als zehn Minuten zu überleben."

Plötzlich keinen Bock mehr auf Computer

Doch nach und nach verinnerlichen die Patienten den neuen Lebensstil. Man trichtert ihnen nicht ein: "8 Stunden Computer am Tag ist blöd", sondern sie formulieren selbst: "Das will ich einfach nicht mehr! Das ist kein Leben!" Das Ganze funktioniert, weil die Massnahmen verstehbar (Information), sinnhaft (Motivation) und handhabbar (Training) sind.

Nur wenn jemand erlebt, dass er selbst etwas bewirken kann, besteht die Chance auf einen nachhaltigen Effekt. Dazu trägt das Erlebnis-Konzept viel bei. Ob Kanu fahren, Höhlen-Ausflüge oder Klettern: All dies wird mit körperlichen, emotionalen und sozialen Erfolgserlebnissen belohnt, aus der vermeintlichen Bedrohung entsteht eine handhabbare Herausforderung.

Die Heilkraft der eigenen Ressourcen

Der Forscher Aaron Antonovsky, der mit Überlebenden von Konzentrationslagern arbeitete, betonte in seiner Salutogenese ebenfalls die Bedeutung der Handhabbarkeit. Sie bezeichnet das Ausmass, in dem geeignete Ressourcen verfügbar sind, um auf wichtige Lebensereignisse adäquat zu reagieren. Sie sei eine Bedingung für das Gefühl für inneren Zusammenhalt und Vertrauen. Solche Kohärenz konnte laut Antonovsky erklären, warum manche Personen das KZ-Grauen relativ gut überlebt haben, während andere an ihrem Schicksal zerbrachen.

Den Abend durchstehen ohne Psychopharmaka

Auch Reisen füllt diese Ressourcen auf. Dr. Löble mahnte daher die Eltern: "Schenken sie Ihrem Kind eine Reise anstelle des Laptops, da wird alles geübt, was der psychischen Gesundheit dient."

Ein wenig Phytotherapie betreiben die Kollegen in Christophsbad ebenfalls: "Wir haben keine Bedarfsmedikation, Lorazepam oder Pipamperon gibt es nur in Einzelfällen und erst nach Rücksprache mit dem Oberarzt." Stattdessen serviert man Tee aus Baldrianwurzel, Hopfenzapfen und Passionsblumen zur Nacht. Als gutes Team gilt ein Team, das einen unruhigen Jugendlichen ohne Tavor durch den Abend bringt.

Schulmedizin und Naturheilverfahren, Schule und Pädagogik, Lebensstil und Lebenskontexte wirken zusammen und schaffen die Möglichkeit zur Prävention und Gesundung, resümierte Dr. Löble. Auf diese Weise unterstützt die KJPP selbstregulative Prozesse der Patienten und ihrer Familien. Und niemand behält das Gefühl zurück, er sei verkehrt: "Der Mensch verändert sich am ehesten, wenn man ihn so lässt, wie er ist."

Quelle: 51. Ärztekongress der Bezirksärzte­­- kammer Nordwürttemberg