Medical Tribune
30. Aug. 2022Wann Antibiotika, Vitamin D und MRI schaden

Manchmal ist weniger mehr

Am KHM-Kongress diskutierte Professor Dr. Stefan Neuner-Jehle, Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich, über die Empfehlungen der «Smarter Medicine» im hausärztlichen Alltag. Dabei zeigte sich, dass es manchmal einen schmalen Grat zwischen Nutzen und Schaden gibt.

Auch erprobte Therapien sollten manchmal gut abgewogen werden.
Tippapatt/gettyimages

In der heutigen Zeit werden unsere Therapieentscheide von vielen Faktoren beeinflusst. Wir befinden uns im Zeitalter des «Shared Deci­sion Making», die Patientenpräferenz rückt immer mehr in den Fokus. Auch die Kostenentwicklung und die stetigen Teuerungen im Gesundheitswesen darf man nicht ausser Acht lassen. Oberste Prämisse bleibt aber weiterhin das Ziel, den Patienten die für sie optimale Behandlung anzubieten und ihnen keinen Schaden zuzufügen.

Als Hausarzt ist man ständig mit dem Spagat zwischen Nutzen und Schaden hinsichtlich der Therapieentscheide bei den Patienten konfrontiert. Wenn diese Balance gestört ist, spricht man von einer sogenannten «low value care» oder «inappropriate care». Diese gilt es zu vermeiden. Initiativen wie «Choosing wisely» und das Schweizer Pendant «Smarter Medicine» haben sich dies seit Längerem zur Aufgabe gemacht und geben regelmässig Empfehlungen für die Behandler heraus.

Prof. Neuner-Jehle zeigte anhand von einigen Beispielen auf, in welchem Bereich «Smarter Medicine» eine wichtige Rolle spielt.

Antibiotika bei viralen Infekten sind unnötig

Der Einsatz von Antibiotika bei viralen (Atemwegs-)Infekten führt seit Jahren als Spitzenreiter die Rangliste an, so Prof. Neuner-Jehle. Eine vermehrte und möglicherweise sogar unnötige Antibiotika-Gabe erhöht die Gefahr der Resistenzentwicklung. Erfreulicherweise kann man hier gemäss dem Referenten mittlerweile einen rückläufigen Trend beobachten. Dies liegt vermutlich – nicht nur, aber unter anderem – auch an multiplen Kampagnen und Patienteninformationsmaterialien. Diese haben das BAG und verschiedene Arbeitsgruppen erarbeitet und sie scheinen durchaus ihre Berechtigung im medizinischen Alltag zu haben.

Ohne Knie-Trauma braucht es das MRI nicht immer

Braucht es bei jedem schmerzhaften Knie ein MRI? Die klare Empfehlung von «Smarter Medicine»: Nein! Die Chance, bei einem Patienten eine asymptomatische Kniebinnenläsion, insbesondere am Meniskus, zu finden, ist sehr hoch. Und was dann? Seit Jahrzehnten wurde hier eine Vielzahl von möglicherweise unnötigen Knie-Arthroskopien durchgeführt. Ob diese dann allerdings das Schmerzproblem lösten, ist fragwürdig. Im Gegenteil – sie generierten Kosten und sogar einen potenziellen Schaden (Infektionen, Thrombosen etc.) für die Patienten. Der Referent empfahl gemäss «Smarter Medicine», bei Patienten ohne Trauma und ohne Blockade oder Gelenkerguss auf ein MRI zu verzichten und somit eine Überdiagnostik und -therapie zu vermeiden.

Die Eisensubstitution – ein Minenfeld

Im Spannungsfeld von Eisenspezialisten, Eisenzentren etc. betonte der Referent, dass weiterhin eine klare Empfehlung zu einer initialen peroralen Eisensubstitution VOR einer Infusionstherapie bei einem korrekt diagnostizierten Eisenmangel besteht. Warum ist das so? Das Hauptargument liegt hier tatsächlich bei den höheren Kosten. Beide Applikationswege (peroral und intravenös) zeigen nämlich die gleiche Wirksamkeit. Einzig bei der peroralen Sub­stitution mittels Kapseln, Tabletten oder Tropfen erkauft man sich diese mit einer etwas schlechteren Verträglichkeit (v.a. allem gastrointestinal). Und es dauert etwas länger.

Aber: Eine Infusionstherapie generiert etwa 3-fach höhere Kosten! Prof. Neuner-Jehle berichtete: «Bei etwa 250 000 Schweizern pro Jahr diagnostiziert man einen nicht an­ämisierenden Eisenmangel, ein Viertel davon erhält als First-line-Behandlung eine i.v. Therapie. Der Wechsel auf eine Per-os-Strategie würde ca. 24 Mio. CHF pro Jahr einsparen.» Eine Ausnahme stellen hier natürlich weiterhin gastrointestinale Malabsorptions-Syndrome dar, die eine intravenöse Eisensubstitution notwendig machen. Auch rät «Smarter Medicine» von einer Eisensubstitution bei Frauen mit einem asymptomatischen Eisenmangel, einer fehlenden Anämie bzw. einem Ferritin von > 15 ug/l ab – für eine Substitution in solchen Fällen gibt es nämlich keine Evidenz.

Vitamin D ist ein «Klassiker»

Wer kennt sie nicht – die farbenfrohen Plakate in den Apotheken und Drogerien, die für die Einnahme des «Sonnenhormons» werben? Aber braucht denn wirklich jeder eine Vitamin-D-Bestimmung? Auch hier bezog der Experte klar Stellung: «Smarter Medicine» empfiehlt, keine 25(OH)-Vitamin-D-Bestimmungen bei Personen ohne Risikofaktoren für einen Mangel (z.B. Niereninsuffizienz, Osteoporose, Malabsorption etc.) durchzuführen. Aktuell ist dies auch nicht mehr Pflichtleistung der Krankenkassen.

Keine der unzähligen in den letzten Jahren durchgeführten Studien zu Vitamin D konnte einen signifikanten Nutzen der generellen Supplementation auf Muskelkraft, Sturzrisiko, Kognition oder das Überleben zeigen. Im Gegenteil – hohe Dosen an Vitamin D können auch Schaden anrichten, womit man sich wieder auf dem schmalen Grat zwischen Nutzen und Schaden und «inappropriate care» befindet, sagte Prof. Neuner-Jehle.

Orientierung an Evidenz und Patientenpräferenz

Was steht nun einer Umsetzung der Empfehlungen von «Smarter Medicine» im Weg? Gemäss dem Referenten findet sich teilweise eine gewisse Guideline-Skepsis, die man möglicherweise mit Hausarzt-eigenen Empfehlungen überwinden könnte. In gewissen Bereichen scheinen aus­serdem finanzielle Anreize für die Durchführung von diagnostischen Abklärungen und Eingriffen nach wie vor Usus zu sein – für das Unterlassen «unnötiger» Abklärungen existieren diese hingegen kaum.

Prof. Neuner-Jehle betonte, dass eine Medizin gemäss den Empfehlungen von «Choosing Wisely» und «Smarter Medicine» durchaus eine zeitaufwendige Kommunikation mit den Patienten mit sich bringt – nicht immer ist dies im Praxisalltag umzusetzen und wird auch entsprechend vergütet. Die Initiativen können jedoch dabei helfen, mit den Patienten sinnvolle und rationale Therapieentscheide zu treffen. Derartige «Tools» unterstützen Ärzte dabei, auf dia­gnostische oder therapeutische Eingriffe mit geringem oder gar fehlendem Nutzen zu verzichten.

«Das ‹Decision Making› muss sich an Evidenz und Patientenpräferenz orientieren und darf nicht durch pekuniäre Anreize bzw. einen übermäs­sigen Aktionismus – im Gegenzug aber auch nicht durch Nihilismus – beeinflusst sein» , so der Experte. «Wir sollten unsere Patientinnen und Patienten zum kritischen Mitdenken motivieren und sie in die Entscheidungsfindung im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand aktiv miteinbeziehen. Das kostet viel Zeit – aber es lohnt sich.»