Medical Tribune
12. Jan. 2022Auch nüchtern noch betrunken

Die Wernicke-Enzephalopathie als neurologischer Notfall

Ataxie, Desorientiertheit und Ophthalmoplegie – die klassische Symptomtrias der Wernicke-Enzephalopathie ist nur selten vorhanden. Bei entsprechender Alkohol-Anamnese gibt man verwirrten oder deliranten Patienten daher auf Verdacht Thiamin intravenös.

In der MRT zeigt sich in der periaquäduktalen grauen Substanz eine Signalanreicherung – typisch für die Wernicke-Enzephalopathie.

Die Wernicke-Enzephalopathie ist aufgrund ihrer vielseitigen und zum Teil unspezifischen Symptomatik eine anspruchsvolle Diagnose. Nicht selten wird sie zunächst für etwas ganz anderes gehalten. Dr. Larissa Dams und Professor Dr. Markus Krämer, welche in der Klinik für Neurologie des Alfried Krupp Krankenhauses Essen tätig sind, beschreiben anhand einer Kasuistik das diagnostische Vorgehen.

Typische Auffälligkeiten in der MRT sichtbar

Ein 48-Jähriger wird vom Rettungsdienst desorientiert und in leicht verwahrlostem Zustand aufgefunden. Eine besorgte Nachbarin hatte diesen alarmiert. Der Mann klagt lediglich über leichte Oberbauchschmerzen, zeigt aber eine Stand- und Gangunsicherheit, beidseits eine Abduzensparese sowie einen Blickrichtungsnystagmus. In der Klinik lassen sich computertomografisch eine intrazerebrale Blutung und eine zerebrale Ischämie ausschliessen. Die Lumbalpunktion zur Abklärung einer möglichen Enzephalitis bleibt unauffällig. Erst eine zerebrale Magnetresonanztomografie, welche klassische Auffälligkeiten der Corpora mamillaria, des Aquaeductus mesencephali sowie der Adhesio interthalamica zeigt, führt die Ärzte zur Diagnose Wernicke-Enzephalopathie.

Vermehrten Alkoholkonsum hatte der Patient zuvor verneint, doch erhöhte Werte für das kohlenhydratdefiziente Transferrin sprechen für einen chronischen Alkoholabusus. Der hierdurch entstandene Thiamin-Mangel ist die pathogenetische Ursache der Wernicke-Enzephalopathie: Aufgrund des beeinträchtigten Energiestoffwechsels kommt es zu einem zytotoxischen und vasogenen Ödem, das im Verlauf zur Neurodegeneration (bis zum Korsakow-Syndrom) führt. Der Vitamin-B1-Wert des 48-Jährigen liegt bei 32,5 nmol/l, normal sind etwa 70–180 nmol/l. Er erhält als Therapie eine sofortige i.v. Thiamin-Substitution, die nach einer Woche auf eine orale Gabe (100 mg/d) reduziert wird.

Obwohl ein chronischer Alkoholkonsum in 50 % der Fälle der alleinige Auslöser der Wernicke-Enzephalopathie ist, kommt im vorgestellten Fall neben der Malnutrition eine Malabsorption aufgrund einer Helicobacter-pylori-assoziierten Gastritis hinzu. Diese hatte dem Patienten die Bauchschmerzen beschert. Weitere Ursachen, die zu einem schweren Thiamin-Mangel führen können, sind zum Beispiel regelmässiges Erbrechen während der Schwangerschaft oder die Dialyse.

Eindrückliche, aber selten vollständige Symptomtrias

Wegen der schwerwiegenden Folgen bzw. der persistierenden neurologischen Schäden der Wernicke-Enzephalopathie wird für Delir-Patienten oder Verwirrte bereits bei positiver Sucht- oder Malnutritionsanamnese eine Thiamin-Therapie mit 100 mg (i.v.) empfohlen. Besteht zusätzlich ein Enzephalopathie-Verdacht, sind laut Leitlinie bis zu fünfmal 100 mg möglich.

Die Symptomtrias der Wernicke-Enzephalopathie ist zwar eindrücklich, aber selten vollständig vorhanden. Einzelne Symptome lassen sich insbesondere bei diesen Patienten leicht mit Trunkenheit verwechseln. Eine ausführliche (Sucht-)Anamnese und zielgerichtete Bildgebung können diesem Chamäleon jedoch auf die Spur kommen. LRN

Dams L, Krämer M. Internist 2021; 62: 1111–1114.