Medical Tribune
29. Juli 2023Kausalzusammenhang mit der SARS-CoV-2-Infektion ist meist nicht belegbar

«Spezifische Post-COVID-Syndrome sind in der Psychiatrie selten»

Unspezifische Erschöpfung und Konzen­tra­tions­schwächen: die Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion? ­Davon gehen viele Betroffene aus. Belegen lässt sich ein kausaler Zusammenhang einem deutschen Experten zufolge jedoch nur in wenigen Fällen.

Profilfoto Hochformat Professor Dieter Braus
Jennifer Wolters

Prof. Dr. Dieter F. Braus
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor Vitos Klinikum Rheingau

Herr Professor Braus, wie gross ist das Problem Post-COVID in der Psychiatrie?
Symptome, die sich wirklich sicher auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 zurückführen lassen, sind nach derzeitiger Datenlage eher selten. In den Ambulanzen und Tageskliniken, die ich leite, waren es bei mehreren Tausend Patienten in den letzten zwölf Monaten nur 12 oder 13 Fälle.

Dafür, dass in Deutschland rund die Hälfte der Bevölkerung eine gesicherte SARS-CoV-2-Infektion hatte – inklusive der Dunkelziffer wahrscheinlich eher zwei Drittel –, ist das doch sehr überschaubar. Es kursiert ja die Zahl von rund zehn Prozent Post-COVID-Betroffenen nach der Infektion. Das ist bei einem leichten Verlauf für neuropsychiatrische Symptome eher nicht zu belegen.

Welche psychiatrischen Symptome können nach COVID-19 persistieren?
Bei unseren Patienten spielen oft Schlaf­störungen eine Rolle, aber auch allgemeine Gefühle von Antriebslosigkeit und Erschöpfung, unspezifische Rücken- und andere Muskelschmerzen. Häufig werden auch Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten als Post-COVID-Symptome angeführt. Diese beobachten wir bei uns jedoch selten. Zumindest wenn man sie mit hinreichender Sicherheit auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückführen möchte.

Wie lässt sich feststellen, ob eine Infektion ursächlich für die Beschwerden ist?
Ein schwerer COVID-Verlauf mit Hospitalisierung ist ein erster Hinweis. Diesen finden wir bei rund der Hälfte unserer Post-COVID-Patienten. Auch wenn nach einer solchen Hospitalisierung eine posttraumatische Belastungsstörung neu auftritt, vielleicht noch mit Flashbacks zur Zeit im Krankenhaus, ist die Sache relativ eindeutig.

Bei den allermeisten Fällen von vermuteten Post-­COVID-Symptomen ist aber beides nicht gegeben. Vor allem bei unspezifischen Beschwerden muss man daher immer fragen: Sind diese Symptome auch vor COVID-19 bereits aufgetreten? Waren die Betroffenen vielleicht schon einmal deswegen krankgeschrieben? Oder gab es ausser der Infektion zeitgleich andere psychische Belastungsfaktoren?

Welche Belastungen könnten das sein?
Denken Sie an Homeschooling und fehlende Kitabetreuung für Eltern. Für Kinder und Heranwachsende wiederum war es bedrückend, keine Freunde treffen zu können. Hobbys, die für körperlichen Ausgleich und Geselligkeit sorgen, fielen bei uns allen plötzlich weg. Hinzu kamen Krankheitsängste, finanzielle Sorgen und die zeitweise stark beengten Wohnverhältnisse mit Familie oder Partner.

Das alles kann die Psyche angreifen. Dass man trotzdem der SARS-CoV-2-Infektion die Schuld gibt, liegt auch an bekannten kognitiven Fehlschlüssen. Wir neigen dazu, jedes enge zeitliche Aufeinanderfolgen als Kausalität zu interpretieren. Und wenn man täglich in Echtzeit die weltweiten Pandemie-Nachrichten verfolgt, ist die Erkrankung einfach sehr präsent.

Spielt der Zusammenhang mit einer Infektion für die Behandlung eine Rolle?
Jedes subjektive Leiden ist gleich ernst zu nehmen. Alles andere wäre fahrlässig und würde Chronifizierung sowie Invalidisierung begüns­tigen. Manches müssen wir zwar als psychosomatisch bezeichnen, aber leider verstehen das zu viele als "eingebildet", was falsch ist. Es gibt also beide Gefahren: sowohl die Übertreibung des Problems Post-COVID als auch das Herunterspielen real vorhandener Symptome.

Wie sieht die Behandlung unspezifischer Symptome nach COVID-19 aus?
Im Prinzip so, wie man es auch von den funktionellen neurologischen Störungen kennt. Stichworte sind Energiemanagement, Stressabbau und kognitive Verhaltenstherapie. Die meisten Patienten können in ihrem Tempo lernen, die Belastbarkeit wieder zu steigern. Gesunde Ernährung und Schlaf spielen ebenfalls eine Rolle.

Die Prognose ist in der Regel günstig: Drei Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion leiden noch viele Betroffene an Residualsymptomen, nach einem Jahr aber nur noch wenige. Dass man zwölf Monate nach der Infektion morgens immer noch nicht aus dem Bett kommt, gibt es natürlich auch. Das sind schwerwiegende Einzelfälle.

Wie schätzen Sie generell die Bedeutung der Pandemie für die psychische Gesundheit ein?
Ich habe auffällig viele Patienten mit Depression und Angststörungen erlebt, die über viele Jahre hinweg stabil waren und während der Pandemie plötzlich einen Rückfall erlebten – ohne andere negative Erlebnisse, die das erklären könnten.

Das zeigen auch alle Studien zum Thema: Ängste und Depressivität sind in die Höhe geschossen, vor allem in den ersten 18 Monaten, als es noch keine Impfung und keine spezifische Therapie gab. Aber wir sehen auch, dass sich das nach zwei Jahren fast wieder normalisiert hat. Über diesen Zeitraum hinaus sind allerdings psychotische Störungen, Schlafstörungen und Demenzen in allen Altersgruppen weiterhin erhöht.