Medical Tribune
23. Mai 2023Bislang keine gleichwertige Alternative zur Phasenprophylaxe verfügbar

Viele Lithium-Mythen sind widerlegt

Macht Lithium übergewichtig? Lässt die Wirkung mit der Zeit nach? Und wie schädlich ist es für die Nieren? Ein Experte stellt verbreitete Annahmen zur Lithiumtherapie auf den Prüfstand.

Ob man von Lithium wirklich zunimmt oder das Risiko für Nierenschäden riskiert, steht mittlerweile zur Debatte.
Michael Niessen/gettyimages

«Lithium ist und bleibt der Goldstandard in der Rezidivprophylaxe bipolarer Störungen», stellt Prof. Dr. Dr. ­Michael ­Bauer vom Universitätsklinikum der Technischen Universität Dresden klar (1). Lithiumsalze wirken erwiesenermassen antimanisch und auch augmentativ-antidepressiv; zudem zeigten sich wiederholt antisuizidale und neuroprotektive Effekte unter der Therapie.

Hartnäckig hält sich allerdings eine Reihe von Mythen insbesondere zur Langzeittherapie mit Lithium, bemängelt Prof. Bauer. Etwa, dass die Wirksamkeit der Substanz mit der Zeit abnimmt oder dass bei einem erneuten Therapiestart nach vorherigem Absetzen ein geringerer Effekt beobachtet wird. Beide Annahmen sind mittlerweile widerlegt.

Gewichtszunahme um nur 460 Gramm

Gefürchtet sind unter anderem Gewichtsveränderungen unter Lithium. Eine Metaanalyse aus dem letzten Jahr ergab aber nur einen durchschnittlichen Gewichtszuwachs von rund 460 Gramm unter der Behandlung, was keiner signifikanten Zunahme entsprach. Tatsächlich nahmen die Patienten in den Placebogruppen der eingeschlossenen Studien sogar etwas stärker zu als die mit Lithium behandelten Teilnehmer.

Natürlich gibt es vereinzelt Patienten, die mit einer starken Gewichtszunahme reagieren, erklärt Prof. ­Bauer. Ein Monitoring erscheint deshalb sinnvoll. Dass Lithium aber generell das Körpergewicht erhöht, gehört seiner Auffassung nach ebenfalls ins Reich der Mythen.

Anders sieht es mit der nephro­toxi­schen Wirkung von Lithium aus, die als mögliche Langzeitnebenwirkung laut Prof. Bauer intensiver betrachtet werden muss. Eine Analyse koreanischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2022 ergab, dass nach rund 20 Jahren Lithiumtherapie die Nierenfunktion tendenziell stärker nachlässt als unter einer gleich langen Behandlung mit Valproat.

Der kritische Wert für die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate von 60 ml/min wurde aber auch nach dieser langen Behandlungsdauer nur von wenigen Lithiumbehandelten unterschritten. Valproat erwies sich in dieser Hinsicht als nicht überlegen.

Die Nieren sollte man im Auge behalten

Im Widerspruch dazu hatte eine Ende 2021 publizierte Metaanalyse eine Verdopplung des Risikos für die chronische Nierenerkrankung unter Lithium ergeben. Die Studienlage ist allerdings auch nach Einschätzung dieser Autoren weiterhin sehr heterogen.

Die Ergebnisse einer schwedischen Kohortenstudie deuten schliesslich darauf hin, dass ein Abfall der Nierenfunktion nach einer Behandlungsdauer von mehr als zehn Jahren vor allem mit sich entwickelnden Komorbiditäten wie Diabetes und Hypertonie zu erklären ist. Insgesamt spricht die bisherige Evidenz dafür, bei der Therapie mit Lithium zumindest einige Vorsichtsmassnahmen (siehe Kasten) zu beachten, so Prof. Bauer.

Gleichwertige Alternativen zur Phasenprophylaxe mit Lithium sind bislang nicht verfügbar. Lamotrigin etwa erhält in der aktuellen S3-Leitlinie nur eine B-Empfehlung, da es vor allem manische Phasen weniger gut verhindert. In einer aktuellen multizentrischen, placebokontrollierten Studie aus China wurde das Antiepileptikum Patienten mit bipolarer Störung I verabreicht und die Dauer bis zum Auftreten der nächsten Episode (gleich welcher Art) inklusive der Notwendigkeit einer Intervention gemessen.

Dabei ergab sich insgesamt kein Unterschied zwischen der Verum- und der Placebogruppe. Einen signifikanten Nutzen hatte das Medikament jedoch in der Subgruppe der schwer erkrankten Patienten, insbesondere bei jenen, die zu Beginn der Studie einen Hamilton Depression Rating Scale (HAMD)-Wert unter 18 oder einen Young Mania Rating Scale (YRMS)-Score unter 10 aufgewiesen hatten.

Beim Absetzen von Lithium die Dosis schrittweise reduzieren

Manchmal ist es nötig, Lithium mehr oder weniger abrupt abzusetzen, etwa wenn keine ausreichende Wirkung erzielt wird, nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten, Patientinnen schwanger werden oder andere medizinische Gründe vorliegen. Nach längeren Phasen des Wohlbefindens kann es ebenfalls vorkommen, dass die Patienten eine Unterbrechung der Prophylaxe wünschen.

Das Absetzen sollte jedoch nicht zu schnell geschehen, wie eine Studie von Forschern der Harvard Medical School belegt. Eine schrittweise Reduktion der Dosis – über einen Zeitraum von zwei Wochen oder länger – senkte das Risiko für einen Rückfall deutlich. Nach dem langsamen Absetzen vergingen bis zum Auftreten eines Rezidivs im Schnitt elf Monate, bei abrupterem Abbruch hingegen nur vier. Die Dauer der Lithiumbehandlung vor dem Abbruch spielte dagegen keine Rolle.

Stimmung stabilisieren, Niere schützen

Um nephrotoxische Effekte durch eine Phasenprophylaxe mit Lithium möglichst zu vermeiden, empfiehlt Prof. Dr. ­Dr. Michael ­Bauer von der Technischen Universität Dresden die folgenden zusätzlichen Massnahmen:

  • engmaschiges Monitoring der Nierenfunktion, insbesondere ab dem 55. Lebensjahr
  • nierenschädigende Lithiumintoxikationen verhindern, was sich vor allem durch gute Psychoedukation erreichen lässt
  • die Nierenfunktion gefährdende Begleiterkrankungen wie Hypertonie, Diabetes mellitus, Nikotin-/Alkoholabusus behandeln
  • nach Möglichkeit die Gabe weiterer nephrotoxischer Medikamente vermeiden, z.B. Kontrastmittel, NSAR, Antibiotika