Orphan drug verändert Therapiestandard bei aTTP
BASEL – Der selektive, bivalente Nanobody Caplacizumab (Cablivi®) von Sanofi Genzyme ist das erste und bisher einzige spezifische Arzneimittel zur Behandlung der erworbenen thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (aTTP) und wurde dieses Jahr mit dem Prix Galien Suisse in der Kategorie «Orphan Diseases» ausgezeichnet. An der Preisverleihung in der Safran Zunft lobten die Laudatoren die Entwicklung des innovativen Medikaments, von dem Patienten mit aTTP deutlich profitieren.
In seiner Laudatio erklärte Professor Dr. Dr. Walter F. Riesen, Vizepräsident der Jury, die Kriterien für die Verleihung des Prix Galien Suisse in der Kategorie Orphan Diseases: Es muss sich um ein Orphan drug handeln, d.h. für eine Erkrankung zugelassen sein, die höchstens 5 von 10 000 Personen betrifft. Daneben sind Innovation sowie eine medizinische Bedeutung gefordert bei erträglichen Nebenwirkungen.
Bei der aTTP kommt es zur Bildung von Antikörpern gegen das Enzym ADAMTS13, wodurch dessen Aktivität abnimmt. Die ultralangen von-Willebrand-Faktor-Multimere werden nicht mehr gespalten und akkumulieren. Es kommt zu einer erhöhten Bindung von Thrombozyten. Die Bildung von thrombozytenreichen Mikrothromben in Kapillaren und Arteriolen führt schliesslich zu Organschäden und thromboembolischen Komplikationen.
Zwei kontrollierten Studien haben die Wirkung von Caplacizumab nachgewiesen: die Phase-II-Studie TITAN1 und die Phase-III-Studie HERCULES2, die schliesslich zur Zulassung von Caplacizumab führte. In beiden Studien reduzierte das Präparat die Dauer bis zum Ansprechen der Thrombozytenzahl, senkte die Rezidivrate und die Rate an aTTP-bedingten Todesfällen, verminderte die Tage mit Plasmaaustausch sowie die Tage im Spital und auf der Intensivstation. Es wirkte sich zudem positiv auf die Normalisierung von Organschäden aus, so Prof. Riesen. Caplacizumab erfüllt damit die Kriterien für die Kategorie Orphan diseases: Die Prävalenz liegt bei 0,9 bis 2,6 pro 10 000 Personen. Die Wirksamkeit ist gut, die medizinische Bedeutung vorhanden und Nebenwirkungen sind gering.
Mortalitätssenkung von 100 % auf 1 % in 100 Jahren
Professor Dr. Johanna Kremer Hovinga, Leitende Ärztin, Universitätsklinik Hämatologie und Hämatologisches Zentrallabor, Inselspital Bern, forscht seit 2003 über diese seltene Erkrankung und berichtete über den Therapiefortschritt der letzten Jahrzehnte.
Die Krankheit wird nach ihrem Erstbeschreiber auch Eli-Moschkowitz-Syndrom genannt. Dieser hatte im Jahr 1924 ein 16-jähriges, zuvor gesundes Mädchen behandelt, das sich mit hohem Fieber und Unwohlsein vorstellte. Sie wies Einblutungen in der Haut auf, der Hb-Wert betrug 40 g/l. Nach einer Woche erlitt sie einen Schlaganfall und starb am nächsten Tag. Bei der Autopsie fand Moschkowitz Thrombosen in den Arteriolen und Kapillaren in Herz, Leber, Niere und Milz. Über die Autopsie des Gehirns ist zwar nichts bekannt, aber es ist davon auszugehen, dass es ebenfalls involviert war, so Prof. Kremer Hovinga.
Erst 20 Jahre später konnte man anhand der Analyse von zwölf Fällen die klinische Pentade der TTP genauer beschreiben: Sie besteht aus Thrombozytopenie, einer mikroangiopathischen hämolytischen Anämie, Fieber, neurologischen Symptomen und Niereninsuffizienz. Die Mortalität betrug zu dieser Zeit immer noch 90 %.
Dies änderte sich, als Ärzte 1977 begannen, Patienten mit Plasmaaustausch, bzw. Plasmainfusionen für die erbliche Form, zu behandeln. 1982 stellten Forscher aufgrund von wissenschaftlichen Untersuchungen die Hypothese auf, dass im Plasma dieser Patienten etwas fehlt. «Das hat sich dann später bewahrheitet», so Prof. Kremer Hovinga. Mitte der 1980er-Jahre wurde die erste randomisierte Studie bei dieser seltenen Erkrankung durchgeführt, die 1991 im New England Journal of Medicine publiziert wurde. In dieser Studie betrug die Mortalität 22 %. Der Plasmaaustausch avancierte daraufhin zum Therapie-Standard.
In den 1990er Jahren begannen Forscher dann die von-Willebrand-spaltende Protease im Plasma zu suchen. Dazu reinigten sie in einem aufwändigen Verfahren 180 Liter Plasma. Im Jahr 1996 war ihre Suche von Erfolg gekrönt. Zu dieser Zeit betrug die Mortalität unter der Therapie mit Plasmaaustausch, Immunsuppression mit Kortikosteroiden oder Rituximab etwa 5 %–10 %.
Nachdem es gelungen war, den Antikörper zu entwickeln, startete 2011 die TITAN-Studie mit Caplacizumab. Es dauerte fünf Jahre, um die 75 Patienten zu rekrutieren und dies war erst die zweite, je bei dieser Krankheit durchgeführte Studie, so die Expertin. Ihr Labor in Bern war zu dieser Zeit das erste weltweit, das eine akkreditierte ADAMST13-Bestimmung hatte, die auch die FDA akzeptierte.
Heute gehört Caplacizumab zum Standard der aTTP-Therapie. Die Mortalität liegt zwischen 3 und 5 %, in erfahrenen Zentren bei 1 %. Auch die Guidelines empfehlen, bei Verdacht auf eine aTTP sofort mit der Triple-Therapie aus Plasmapherese, Immunsuppression und Caplacizumab zu beginnen. «Ich bin sehr froh, dass wir dieses Medikament haben und hoffe, dass auch das BAG Einsicht zeigt. Denn obwohl Cablivi bereits seit 2019 von der Swissmedic zugelassen ist, gibt es noch keinen Preis, und wir müssen jedes Mal in der Notfallsituation eine Kostengutsprache einholen», so die Hämatologin.
1.Peyvandi F et al. N Engl J Med. 2016; 374(6); 511–522.
2.Scully M et al. N Engl J Med 2019; 380: 335–346.