Medical Tribune
26. Feb. 2016

Hausärztliche Kurzinterventionen 
lohnen sich nachhaltig

DAVOS – Alkoholprobleme lassen sich in allen sozialen Schichten und in allen Altersgruppen jenseits des Kindesalters beobachten – wenn man hinschaut. Professor Dr. Roland Bingisser, Chefarzt, Notfallzentrum, Universitätsspital Basel, referierte am 55. Ärztefortbildungskurs von Lunge Zürich über alkoholbedingte Notfälle. Er plädierte für ärztliche Kurzinterventionen, die sich in Studien als effizient und kostensenkend erwiesen haben. Das Vorgehen ähnelt demjenigen bei Rauchern, die man für einen Rauchstopp motivieren kann.

Die typischen alkoholischen Notfälle lassen sich an drei Lebensphasen festmachen:

  • Karriere-Start: Bei Jugendlichen ab 12 Jahren muss nach Partys mit «Abstürzen» gerechnet werden. Bei einem Alkoholpegel von etwa 1,5 ‰ sind sie nicht mehr ansprechbar. Als bedenklich bezeichnete 
Prof. Bingisser die über soziale Medien verbreitete Eventkultur von Trinkgelagen mit Wettkampfcharakter, die eine hohe Akzeptanz finden.
  • Karriere-Höhepunkt: Dieser wird um das 50. Lebensjahr angenommen. In diesem Alter kann es bereits bei 1 ‰ zu Krampfanfällen im Entzug kommen. Drei Schädel-CTs pro Jahr wegen Schädel-Hirn-Trauma nach alkoholbedingten Stürzen sind «normal».
  • Karriere-Ende: Um das 80. Lebensjahr werden die Betroffenen häufig wegen einer Verschlechterung des Allgemeinzustands eingewiesen. Oft fragen Ärzte nicht nach dem Alkoholkonsum. Von Angaben wie «zwei Schlückli Melissengeist» sollte man sich nicht hinter’s Licht führen lassen, so der Referent.

Der Notfallmediziner wies mit Nachdruck auf die Häufigkeit und Gefährlichkeit eines ausser Kon­trolle geratenen Alkoholkonsums hin: So haben 24–31 % aller Notfall-Patienten > 2 Punkte im CAGE-Test (s. Kasten). Relevante Alkoholspiegel findet man bei 22 % aller Leichtverletzten, bei 40 % aller Suizide und tödlichen Stürze, bei 40–50 % aller tödlichen Verkehrsunfälle und bei 60 % mit tödlichen Verbrennungen. Ausserdem korreliert der wöchentliche Alkoholkonsum mit dem Risiko eines gewaltsamen Todes.

Das Krebsrisiko, insbesondere für Karzinome in Larynx, Pharynx und im Mundbereich, ist bereits beim täglichen Konsum einer halben Flasche Wein oder von zwei Flaschen Bier um den Faktor 1,2 bis 1,6 erhöht.
Welches Ausmass alkoholbedingte Notfälle annehmen können, zeigte sich an der EURO 2008: Hier versammelten sich 120 000 holländische Fussball-Fans in Basel, 70 000 waren betrunken, es kam zu 700 zusätzlichen Notfällen, von denen 70 stationär aufgenommen werden mussten. Man war vorbereitet und hatte die Situation im Griff.

Erfahrungshorizont des Notfallmediziners

Für Alkohol- oder Drogenintoxikation bei unter 18-Jährigen wurde im Universitätsspital Basel ein spezielles Protokoll entwickelt. Dieses zielt darauf ab, die Jugendlichen nach der medizinischen Akutversorgung für eine standardisierte Kurzintervention zu gewinnen.

Prof. Bingisser sieht es als Aufgabe der Notfallstationen, es nicht mit der Akutbehandlung alkoholbedingter Notfälle bewenden zu lassen. Durch eine Kurzintervention können sie dazu beitragen, alkoholbedingte Risiken wie Verkehrsunfälle zu senken, allkoholbezogene Probleme (z. B. Depression, Suizid, Hypertonie, Krebs oder Hirnschlag) zu verringern und Interaktionen zwischen Medikamenten und Alkohol zu vermeiden.

Kurzintervention in der Praxis von Nutzen

Die Kurzintervention führt über mehrere Schritte von der Präkontemplation, über Kontemplation und Determination zur Aktion – mit dem langfristigen Ziel der Aufrechterhaltung des geänderten (Trink-)Verhaltens.

Immer wenn Alkohol im Spiel ist, sollte man das Thema ansprechen. Dann muss der Arzt ermitteln, wo der Patient steht, wie es mit dem Leidensdruck und Veränderungswillen aussieht, gefolgt vom «guten ärztlichen Rat», dessen Einfluss man nicht unterschätzen darf, wie auch die Resultate der TREAT-Studie zeigen: In diese Studie wurden 774 Personen mit problematischem Alkoholkonsum eingeschlossen, die über zwölf Monate einer Kontroll- respektive Interventionsgruppe zugeteilt wurden. Die Interventionsgruppe hatte eine kurze hausärztliche Beratung und Aufklärung erhalten, die darauf
abzielte, den Alkoholkonsum zu senken.
Zwölf, 24 und 36 Monate nach der Intervention hatte der Konsum von rund 19 Drinks pro Woche auf zwölf signifikant abgenommen. Die Gesamtzahl der Tage im Spital sank von 326 auf 126, und die Rate der Verkehrsunfälle mit Blechschaden ging von 28 auf 19 zurück. Die Studienautoren berechneten eine Benefit-Kosten-Ratio von 5,6 : 1, was bedeutet, dass jede Investition von 10 000 Dollar in solche Interventionen einen Gewinn von 56 000 Dollar bringt.

Dr. Renate Weber


Alkohol-Screening im Notfall

  • Medikamente? Rauchen? Alkoholkonsum?
  • Was trinken Sie gerne? (Anzahl Gläser, typischer Tag, wöchentlicher Konsum)
  • CAGE-Fragen bei > 3 Drinks/Tag (2 Punkte = relevantes Risiko)
    • Cut down: Have you ever tried to cut down?
    • Angry: Did you ever get angry if asked about alcohol?
    • Guilty: Did you ever feel guilty about your drinking?
    • Eye Opener: Do you ever drink in the morning?

(nach Bingisser R, 2016)