Medical Tribune
31. Jan. 2017

Auf der Suche nach Konsens

BERN – Auch im neuen Jahr stehen brisante medizinische Themen auf der Traktandenliste der Berufsverbände, die Lösungsansätze voraussetzen. Dr. Urs Stoffel, Chirurg und FMH-Vorstandsmitglied, sowie Dr. Josef E. Brandenberg, Orthopäde und fmCh-Präsident, stellen sich im Medical-Tribune-Interview den drängendsten Fragen.

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Welche gesundheitspolitische Angelegenheit beschäftigt Sie 2017 am meisten? 
Dr. Stoffel: Die TARMED-Revision steht nach wie vor sowohl bei der FMH als auch im Parlament zur Diskussion. Diesbezüglich sind Vorstösse zu erwarten, da die Urabstimmung im vergangenen Sommer gescheitert ist und auch die Versicherer die revidierte Tarifstruktur abgelehnt haben. Inzwischen haben wir ein neues Konzept erarbeitet. Zudem stehen das elektronische Patientendossier sowie der Ärztestopp im Fokus.  

Dr. Brandenberg: Unser Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärztinnen und Ärzte, fmCh, setzt sich neben den Tarifverhandlungen mit dem drohenden Globalbudget auseinander – ein gefürchtetes Schlagwort, das für manche Politiker eine attraktive Variante zu sein scheint, die Kostenexpansion im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen. Für die Leistungserbringer bedeutet dies eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit sowie eine nicht mehr kostendeckende Entschädigung.

?Was unternimmt Ihr Verband gegen dieses mögliche Vorhaben? 

Dr. Brandenberg: Wir können letztlich nur unsere Kommunikation verstärken, indem wir öffentliche Veranstaltungen organisieren, die der Bevölkerung und den Politikern mögliche Folgen eines solchen Schritts klar aufzeigen.

?Zurück zur TARMED-Revision: Wie muss man sich das neue Projekt vorstellen, das dem Bundesrat demnächst vorgelegt wird?  

Dr. Stoffel: Wir haben Befragungen bei sämtlichen Fachgesellschaften und Dachverbänden durchgeführt, um herauszufinden, ob sich ein gemeinsamer Nenner finden lässt. Anhand der Schlussfolgerungen ist nun ein Detailkonzept erarbeitet worden, das Ende Januar im Rahmen der Delegiertenversammlung vorgestellt wird. Das neue Projekt nennt sich TARCO im Sinne eines TARMED-Consensus bezüglich der Tarifstruktur. Jedoch wird es erst 2018 möglich sein, die Vorschläge einzureichen, da wir für Nachbesserungen Zeit benötigen. Neu ist zudem, dass man zunächst eine interne Einigung findet, bevor das Gespräch mit den Tarifpartnern aufgenommen wird.  

Dr. Brandenberg: Die Abstufungen in den Gewichtungen der Tarifpositionen, die sogenannten qualitativen und quantitativen Dignitäten, stellen einen wichtigen Teilaspekt des Projektes TARCO dar. Ich denke, dass ein gangbarer Lösungsweg erarbeitet wurde, doch ist ein Entgegenkommen sowohl seitens der Spezialisten als auch der Hausärzte notwendig.Als neuer fmCh-Präsident versuche ich, meinen Kollegen klarzumachen, dass sie Abstriche hinnehmen müssen. Um einen wiederholten staatlichen Eingriff zu verhindern, ist eine verlässliche Kooperation unter den Ärzten unumgänglich.  

Dr. Stoffel: In Bezug auf die Dignitäten hat man versucht, eine gemeinsame, tragfähige und breit akzeptierte Lösung zu erarbeiten, indem Arbeitsgruppen gebildet wurden, welche die kritischsten Punkte berücksichtigt haben. Das Ziel von TARCO besteht darin, die Hauptprobleme, die zum Scheitern geführt haben, zu identifizieren und auszuräumen. Ein weiterer Knackpunkt sind die operativen Eingriffe, die mit Kostenmodellen verbunden und entsprechend umstritten sind.

?Aufgrund der fehlenden Einigung hat der Bundesrat im vergangenen November beschlossen, einen Tarifeingriff vorzunehmen.   

Dr. Stoffel: Dazu ist er aufgrund des Gesetzesartikels in Form einer subsidiären Kompetenz berechtigt. Entsprechend wird es ab 1. Januar 2018 Änderungen geben, in denen das Bundesamt für Gesundheit, BAG, Übertarifierungen aus dessen Sicht zu korrigieren versucht. Allerdings beziehen sich diese Korrekturen auf den aktuell gültigen Tarif. Sobald die Tarifpartner einen gemeinsamen Vorschlag einreichen, muss der Bundesrat diesen dennoch prüfen und genehmigen oder ablehnen.

?Anlass zu Diskussionen geben auch die Kosten, die bei ambulanten Behandlungen im ersten Halbjahr 2016 um 4,3% gestiegen sind. Wie lässt sich diese Entwicklung kontrollieren?
Dr. Stoffel: Man ist sich in der Politik durchaus bewusst, dass die ambulanten Kosten steigen werden. Die Frage ist nun, wie stark das Volumen wachsen darf und in welchen Sektoren. Derzeit verzeichnet man die höchste Steigerung bei den ambulanten Spitalleistungen. Das hat damit zu tun, dass man frühere stationäre Leistungen heute vermehrt ambulant durchführen kann. Ein weiteres Problem stellt die Finanzierung dar. Im Gegensatz zum stationären Bereich, der mit 55% durch den Staat gedeckt wird, werden die Leistungen im ambulanten Sektor zu 100% aus Prämiengeldern finanziert. Man diskutiert deshalb vermehrt, ob der Kanton auch in diesem Bereich Hand bieten soll im Sinne einer dualen Finanzierung.

Dr. Brandenberg: In jenem Moment, in dem der Kanton auch ambulante Leistungen mitfinanziert, kann eine Prämienentlastung erwartet werden. Die Gesundheitskosten steigen weiterhin in die Höhe, weil die Menschen immer älter und auch chronisch krank werden, was vermehrte medizinische Leistungen mit sich bringt. Wenn diese nicht mehr kostendeckend sind, dürfte das System irgendwann zusammenbrechen. Zudem sind Zusatzversicherungen im Spital verbreitet. Im ambulanten Bereich fehlen diese weitgehend.

Dr. Stoffel: Je mehr Verschiebungen, desto stärker der Prämiendruck. Ich sehe aber noch ein weiteres Problem: Der Kanton könnte Leistungsaufträge vergeben und sähe sich gleichzeitig auch mit einer Doppelrolle konfrontiert. Demzufolge würden in erster Linie die eigenen Ambulatorien ausgebaut und damit auch die eigenen Spitäler bevorzugt.

?Stichwort Kosteneinsparungen: Inwiefern kann die Ärzteschaft dazu beitragen?
Dr. Stoffel: Der umfassende Guideline- und Choosing-wisely-Prozess ist im vollen Gang. Das heisst, die Fachgesellschaften präsentieren Listen mit unnötigen Behandlungen. Sind diese nicht zielführend in Bezug auf die Lebensqualität, werden sie weggelassen. Als ich vor 30 Jahren angefangen habe, hat man beispielsweise Bänderrisse im Sprunggelenk operiert. Heute weiss man, dass eine konservative Therapie dieselben Resultate bringt. 

Dr. Brandenberg: Ich habe früher ebenfalls beobachtet, dass man verdrehte Hüftknochen bei Kindern operiert hat. Heute ergeben sich die Korrekturen im Wachstum meist von selbst. Diese medizinischen Erkenntnisse werden an Bedeutung gewinnen. Auch im Zeitalter von SwissDRG muss man sich immer wieder fragen, ob ein Eingriff tatsächlich notwendig ist, und in diesem Zusammenhang sind auch neue Studien notwendig.

?Themenwechsel: Die aktuelle Regelung über die Zulassung praxisambulanter Ärzte läuft 2019 aus. Die FMH schlägt Qualitätskriterien vor, u.a. den Nachweis einer guten Sprachkompetenz sowie eine mindestens dreijährige Arbeitszeit in einem Schweizer Spital. Reichen diese Kriterien aus?
Dr. Stoffel: Es wurde kritisiert, dass die FMH kaum Vorschläge eingebracht hat. In Grenzkantonen sollte die Einwanderung ein Stück weit gestoppt werden mittels Sprachtests und vorgegebenen Klinikzeiten, da es in finanzieller Hinsicht immer noch attraktiver ist, eine Praxis in der Schweiz zu eröffnen als im benachbarten Ausland. Das Gesundheitswesen dürfte sich ohne besagte Massnahmen weiter verteuern und es könnte zu qualitativen Einbussen kommen.

Dr. Brandenberg: Wir unterstützen die Vorschläge der FMH. Wenn ich höre, dass gewisse Psychiater das deutsche Wort nicht einmal verstehen, stehen mir die Haare zu Berge. Einerseits wird vorausgesetzt, dass die Kommunikation mit den Patienten vermehrt im Zentrum stehen sollte und andererseits lässt man dürftige Sprachkenntnisse zu. Das ist ein eklatanter Widerspruch. Hinzu kommt, dass manche ausländischen Ärzte kaum praktisch tätig waren, aber aufgrund der bilateralen Verträge trotzdem zugelassen werden müssen. 

?Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt das Gesetz zum elektronischen Patientendossier dar, das im Frühjahr umgesetzt werden soll. Wie sieht der Zwischenstand aus?
Dr. Stoffel: Die geplante Umsetzung beschäftigt vor allem die Grundversorger, welche dem Patientendossier eine berechtigte Skepsis entgegenbringen. Die Abgeltung ist bislang noch nicht geregelt. Das Dossier sollte nur behandlungsrelevante Daten wie beispielsweise Impfungen, Allergien, Operationsberichte oder neue Medikamente umfassen. Der Grossteil der Ärzteschaft ist über 55 Jahre alt und zeigt sich mehrheitlich nicht bereit, die finanziellen und zeitlichen Investitionen zu tätigen. Wir müssen den Medizinern die Vorteile und den Nutzen der elektronischen Patientenakte aufzeigen können.

Dr. Brandenberg: Als technikorientierter Arzt bereitet mir das elektronische Patientendossier keine Schwierigkeiten, doch kann ich den Widerstand zahlreicher Hausärzte und Psychiater nachvollziehen, die sich gegen einen gläsernen Patienten wehren und einen angemessenen Datenschutz verlangen. Die Praxisorganisation befindet sich im Wandel. Sobald ein Generationenwechsel stattgefunden hat, wird das elektronische Patientendossier zum medizinischen Alltag gehören.

Besten Dank für das Gespräch!

Interview: Nathalie Zeindler