Medical Tribune
18. März 2025Kostenexplosion im Schweizer Gesundheitswesen: einige Gedankenspiele

Fehlanreize und Silo-Denken

Ich möchte in diesem Gastbeitrag einige Themen ansprechen, die meiner Meinung nach zur Reduktion der Kostenexplosion im Gesundheitswesen beitragen könnten. Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Mein Artikel soll vielmehr pragmatische Denkanstösse liefern, welche aus meiner Perspektive relativ rasch umgesetzt werden könnten.

Ein Stethoskop liegt auf einer Menge an Schweizer Banknoten
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Die Kosten im Gesundheitswesen sind ein Dauerthema.

Es vergeht kaum mehr eine Woche ohne düstere Finanz-Schlagzeilen im Gesundheitswesen. Hier einige Beispiele: «Spital X schreibt X Millionen rote Zahlen», «Krankenkassenprämien steigen weiter, kein Ende in Sicht», «Egoismus unter den Berufsgruppen – Mengenausweitung auf Vormarsch», «Kostenexplosion» oder «zu teuer gebaut». Die gesamte Thematik ist enorm tiefgreifend, sowie politisch und wirtschaftlich extrem komplex und von vielen unterschiedlichen Interessen gefärbt.

Alessia Schrepfer, Mitgründerin WeNurse AG
zVg

Alessia Schrepfer
Mitgründerin WeNurse AG

Egal, ob ich mit Entscheidungsträgern aus der Politik, Krankenkassen oder Berufsangehörigen aus der Spital-, Heim-, Spitex-Industrie spreche: Die Antworten sind immer gleich. Wir haben Fehlanreize im System und ein «Silo-Denken». Zudem ist unsere Tarifstruktur veraltet. Ja, ich weiss, die EFAS kommt, Tardoc löst Tarmed ab und man spricht von der Überarbeitung der DRGs.

Aber auch diese Tarife werden fast immer isoliert betrachtet. Wenn wir jedoch bedenken, dass wir immer mehr chronisch kranke Menschen und eine alternde Bevölkerung behandeln, dann müssten wir endlich Tarife für das gesamte Ökosystem anstreben. Solange das Silo-Denken und die Fehlanreize nicht aus dem Weg geräumt sind, werden wir hauptsächlich darüber reden, kaum Synergien nutzen und erst recht nicht sinnvoll umsetzen.

Eine kleine Anekdote zu einer grossartigen Idee, die theoretisch genau in diese Richtung geht: Ich bin aufgrund meines Krankenkassenmodells in einem «Gesundheitszentrum» als potenzielle Patientin angemeldet. Klingt super! In diesem Zentrum arbeiten verschiedene Fachärzte sowie Psychologen, und ich glaube, es gibt sogar eine Physiotherapie. Interprofessionalität unter einem Dach – geniale Idee! Aber stopp: Wird hier eine gegenseitige und patientenorientierte Zuweisung praktiziert? Gibt es ein gemeinsames Dokumentationssystem oder einen gemeinsamen Rechnungssteller? Fehlanzeige. Ein Gebäude voller Möglichkeiten für Synergien, das in der Realität kaum genutzt wird. Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Fehlt der Wille oder lohnt es sich einfach nicht?

Tarifsystem ist reaktiv statt präventiv

Ein grundlegendes Problem im Gesundheitswesen ist, dass unser Tarifsystem extrem reaktiv statt präventiv ist. Dabei spreche ich nicht von Massnahmen, die über Zusatzversicherungen oder betriebliches Gesundheitsmanagement möglich sind, sondern von den Fehlanreizen im Grundversorgungssystem. Pflegekräfte und Mediziner stehen – überspitzt gesagt – täglich vor der Entscheidung: Soll ich mit Mehraufwand, der oft nicht kostendeckend ist, Präventionsmassnahmen einleiten, oder muss ich, um kostendeckend zu sein, einfach gemäss dem Tarifsystem arbeiten und daher mehr auf Reaktion setzen?

Ambulant vor stationär – das ist ein Trend, der kommen wird. Er wurde politisch entschieden und mit EFAS gestützt. Sind jetzt bis 2032 alle unsere Probleme gelöst? Für mich geht der Trend absolut in die richtige Richtung – etwas zu langsam, aber immerhin. Was müssen wir dabei berücksichtigen? Nicht nur die Finanzierung muss geklärt sein, fast noch wichtiger ist die Frage: Wer macht künftig was, wie und wo?

Ambulant vor stationär – Herausforderungen und Chancen

«Ambulant vor stationär» bedeutet auch, dass der Anteil der Spitex-Mitarbeitenden steigen muss – unabhängig davon, ob es die Pflege betrifft oder «Hospital@home»-Tätigkeiten. Es bedeutet, dass sich Berufsgruppen, die sich gewohnt sind, «stationär» zu arbeiten, in neuen Arbeitsmodellen zurechtfinden müssen.

Die Pflege kennt das «Spitex»- Setting bereits, dennoch möchten viele Pflegefachpersonen dort nicht arbeiten. Das hat unterschiedliche Gründe. Diese sind teilweise ganz simpel, aber auch nachvollziehbar: Bei den einen ist es, weil sie in den Wintermonaten nicht autofahren möchten, andere haben Unwohlsein beim Gedanken daran, alleine in fremde Haushalte zu gehen. Weitere Berufsgruppen werden künftig in dieses Setting umgelagert. Mit diesen diskutieren wir teilweise in Change-Projekten schon darüber, dass eine fixe einstündige Mittagspause immer von Punkt 12.00 bis 13.00 Uhr nicht möglich ist, oder dass der Patient im Zimmer besucht wird und nicht im Behandlungszimmer im EG der Institution. Diese Diskussion ist Realität, schon heute – und das im stationären Setting.

Ist die Angehörigenpflege die Lösung? Ich habe wirklich Respekt vor Angehörigen, die das tagtäglich machen. Aber realistisch gesehen wird das auch künftig eine Minderheit sein. Oder würden Sie Ihr Arbeitspensum und Ihre Freizeitaktivitäten reduzieren, um die «Rund-um-Betreuung» Ihrer Angehörigen zu gewährleisten? Und wollen wir das als Gesellschaft überhaupt? Sprechen wir in der Politik nicht aktuell davon, dass wir junge Mütter zurück in die Arbeitswelt holen wollen, weil wir zu wenige Fachkräfte haben?

Fachkräftemangel oder interprofessionelle Fronten?

Das bringt mich zum nächsten Thema: Ist der Fachkräftemangel denn wirklich so extrem oder sind die unterschwelligen Machtspiele zwischen den Berufsgruppen das Problem? Meine steile These: Der Fachkräftemangel könnte deutlich verringert werden, wenn alle entsprechend ihren Kompetenzen eingesetzt würden. Die Berufszufriedenheit würde steigen und die Verantwortung könnte auf mehrere Schultern verteilt und eingefordert werden.

Aber nun komme ich zu den Patienten: Als Pflegefachfrau, aber auch als ehemalige Arztpraxis-Managerin, habe ich so oft von den Patienten gehört: «Ich habe das zugute, ich zahle ja auch genug.» Öfter musste ich mir da das Schmunzeln verkneifen, nicht, weil ich es lustig fand, sondern schon fast eher als persönliche Intervention, die Contenance zu behalten. In den absurdesten Fällen wurde sogar gedroht: «Dann wechsle ich halt den Arzt, wenn ich XYZ nicht erhalte.» Einmal passierte dies sogar, weil eine Ärztin der 90-jährigen Heimbewohnerin sagte, dass es keine weitere Dauerverordnung für Ergotherapie gibt, weil diese als Beschäftigungstherapie missbraucht wurde – also ohne medizinische oder therapeutische Indikation. Die Patientin hat natürlich einen anderen Arzt gefunden, der das verordnete – das ist aber ein anderes Thema und es ist total absurd.

Für mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen

Ich gebe es zu: Letztes Jahr habe ich zum allerersten Mal meine Franchise aufgebraucht und der Reiz war da: «Jetzt könnte ich doch endlich mal zum Facharzt XY.» Ich habe das nicht gemacht. Der Grund war nicht, weil ich «ein weisses Schaf» bin und das System schonen wollte, sondern ich hatte weder Zeit und Lust, noch war der «Druck» für eine Abklärung genug gross. Es war einfach zu wenig prioritär – der Aufwand war mir zu mühsam. Aber hätte ich vielleicht die Zeit gehabt und mir gedacht «ich will jetzt auch mal profitieren, etwas ‹gratis› haben» – ich hätte gekonnt. Und ich weiss aus meinem Bekanntenkreis, dass sich viele ­diese Zeit nehmen und zwar genau mit dem Grund «jetzt bin ich mal dran». Ihnen sage ich: Sind es berechtigte präventive Massnahmen, dann mach das. Aber sonst: Bitte lass es sein! Es ist ein Bumerang.

Wir müssen als Gesellschaft auch die Offenheit haben, dass es eben nicht für jedes «Wehwehchen» und allgemein jedes Gesundheitsthema einen Arzt braucht. Sondern wir sollten akzeptieren, dass vielleicht auch eine andere Fachperson genauso gut, manchmal sogar besser, das gesundheitliche Problem managen kann.

Systemrelevante Versorgung «too big to fail»

Zum Schluss möchte ich betonen, dass die Baustellen der «Kostenexplosion» zwar von den meisten erkannt werden, wir uns jedoch oft auf die reaktive Symptombekämpfung konzentrieren, anstatt bei den offensichtlichen Ursprüngen der Problematik anzusetzen. Ein wichtiger Anfang ist es sicherlich, diese Themen auf den Tisch zu legen, aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass «finger pointing» oder die Suche nach den «schwarzen Schafen» nicht das Problem lösen wird. Vielmehr sollte uns allen bewusst werden, dass es ein gesellschaftliches Problem ist, das uns alle betrifft und von uns allen, positiv als auch negativ, beeinflusst wird.

Wollen wir eine ernsthafte Veränderung, dann müssen wir dort ansetzen, wo es unbequem ist. Dies erfordert meiner Meinung nach auch einen massiven Kulturwandel für viele von uns. Die Angst, dass bald «kein Geld mehr vorhanden ist» und deshalb beispielsweise Spitäler unnötig geschlossen werden und die Versorgung deshalb nicht mehr gewährleistet werden kann, teile ich nicht. Die systemrelevanten Versorgungsmodelle im Gesundheitssystem sind genau wie unsere Grossbanken «too big to fail» – dennoch sollte das kein Freifahrtschein sein, im alten Trott weiterzumachen.

Ich persönlich bin optimistisch, dass wir früher oder später die Kurve kriegen. Die Frage ist nur: Muss das System zuerst komplett kollabieren und neu aufgebaut werden oder starten wir jetzt mit den nötigen Reparaturen? Ich hoffe auf Letzteres!

Zwei abschliessende Fragen:

  • Sind wir bereit, gemeinsam an einem Strang zu ziehen und das Silo-Denken abzubauen?
  • Und wenn ja, was braucht es dafür?

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version einer Folge von Alessia Schrepfers Blog-Reihe «Zwischen den Fronten».