Medical Tribune
8. Apr. 2023Was auf Ärzte und Patienten in der Zukunft zukommt

Auf dem Weg zur Rationierung im Gesundheitswesen?

Die Kosten im Gesundheitswesen steigen seit Jahren. So haben sich etwa die Krankenkassenprämien seit 1996 fast verdreifacht. Droht jetzt die Rationierung? Am Ärzte-Symposium Nordwestschweiz diskutierten Exponenten aus Politik, Krankenversicherung und Ärzteschaft dieses Thema. Die Positionen sind klar: Die Ärzteschaft sorgt sich vor einer Unterversorgung, die Krankenversicherer haben die Kosten im Blick. Die Patienten wollen nicht in einem Gesundheitssystem «landen», das mit denjenigen in Deutschland oder England vergleichbar ist.

Eine Rationierung des Gesundheitswesens analog zu England wäre denkbar.
Aliaksandr Zadoryn/gettyimages
S. Volante

Dr. Lukas Engelberger, Regierungsrat Basel-Stadt

«Wir wissen in der Politik um die grossen Leistungen, die im Gesundheitswesen tagtäglich in den Arztpraxen, Spitälern und sonstigen Gesundheitseinrichtungen erbracht werden», so Dr. Lukas Engelberger, Regierungsrat Basel-Stadt, zu Beginn der Veranstaltung. Er hob die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens hervor, die sich in der hohen Lebenserwartung widerspiegelt.

Allerdings fallen in der Schweiz auch zwölf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für das Gesundheitssystem an. Dies gehört zu einer alternden Gesellschaft mit hohem Wohlstand. Problematisch wird es, wenn der Anteil der Gesundheitskosten an der Gesamtwirtschaft zunimmt.

Die Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen sind massiv angestiegen und liegen heute bei ca. 800 CHF pro Monat, im Jahr 1990 waren es noch ca. 350 CHF. Langfristig dürfe das Gesundheitswesen nicht überproportional zu anderen wichtigen Staatsaufgaben wie der Energieversorgung wachsen, so der Regierungsrat.

Eine Möglichkeit, die Kostenentwicklung zu dämpfen, ist eine bessere Vernetzung des Systems im Sinne einer integrierten Versorgung. Der Klassiker ist das Hausarztmodell. Dabei müssen die Interessen der Patienten mit chronischen Erkrankungen im Zentrum stehen, denn bei ihnen fallen die meisten Kosten an. Dr. Engelberger sprach sich dafür aus, die Grundversorgung zu stärken.

Krankenkassenprämien seit 1996 fast verdreifacht

Dr. Christoph Kilchenmann, Leiter Abteilung Grundlagen und stellvertretender Direktor santé­suisse, erklärte, dass die Kosten seit Einführung des KVG ungebremst und deutlich stärker als Preise und Löhne steigen. Wenn alltägliche Güter die gleiche Teuerung erlebt hätten wie die Krankenkassenprämie, die von 173,10 CHF im Jahr 1996 auf 485,95 CHF im Jahr 2022 gestiegen ist, würde der Liter Benzin heute 3,25 CHF statt 1,83 CHF, das Halbtax-Abo 421,15 CHF statt 185 CHF und die Autobahnvignette 84,25 CHF statt 40,00 CHF kosten. Ohne Sparmassnahmen werden die Prämien weiter steigen. Als Beispiele für solche Interventionen nannte Dr. Kilchenmann:

  • Senkung der Medikamentenpreise: Patentierte Medikamente sind im Vergleich zum Ausland 10% teurer. Generika kosten fast doppelt so viel. Die Vergütung von hochpreisigen Arzneien muss sich an der Wirkung bemessen.
  • Ersatz des Einzelleistungstarifs durch Pauschalen bei ambulanten Leistungen: Bei einer fixen Entschädigung pro Tag und Patient, kann der Tarif weniger ausgereizt werden und ist damit gerechter. Eine Pauschale, die Medikamente und Material beinhaltet, belohnt den kostengünstigen Einkauf und vereinfacht die Leistungsabrechnung.
  • Konsequente Zulassungssteuerung unter Einbezug der Spital-Ambulatorien: In der Schweiz gibt es eine hohe Versorgungsdichte, die Anzahl an Spezialärzten pro Einwohner ist deutlich gestiegen.
  • Wirkungslose Therapien aus dem OKP-Leistungskatalog streichen.
  • Tarifpartnerschaftliche Kostensteuerung: Tarifpartner einigen sich auf verbindliche Kosten- und Qualitätsziele.

Salvatore Volante, der den Anlass moderierte, erinnerte den Referenten, dass «75 Prozent der patentfreien Medikamente lediglich 12 CHF Prämie pro Monat ausmachen.»

Wie Fehlannahmen zur Unterfinanzierung im Gesundheitswesen führen

Die Patientenstelle beider Basel macht grundsätzlich sehr gute Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen, erklärte Vorstandsmitglied Melanie Eberhard. Von Zeit zu Zeit kommen Personen, bei denen Krankenkassen die Kosten der Angehörigen nicht übernehmen möchten. Die Patientenstelle lehnt eine Rationierung ab, denn «alle sollen gleich behandelt werden». Die Entwicklung zur Zweiklassenmedizin bereitet jedoch zunehmend Sorgen. Zu beobachten ist die Tendenz, dass Personen ohne Zusatzversicherung z.B. bei einer Reha eher wieder nach Hause geschickt werden als solche mit Zusatzversicherung.

Auch Dr. Jana Siroka, Mitglied des Zentralvorstands der FMH und für Tarife und stationäre Versorgung verantwortlich, sorgt sich um die Zukunft des Gesundheitswesens in allen Fachbereichen. Im Fall einer Rationierung droht Patienten die Unterversorgung, etwa wenn wegen Unterfinanzierung nicht ausreichend Leistungen erbracht werden oder die erforderlichen Ressourcen bzw. Fachkräfte nicht vorhanden sind.

MT-Archiv

Dr. Jana Siroka, Mitglied des Zentralvorstands der FMH

Verschiedene Fehlannahmen können zu Unterfinanzierung und einem Ressourcenmangel führen. Zu diesen zählt Dr. Siroka beispielsweise, dass Kostendruck zur Kostendämpfung führt und damit gute Versorgung günstiger wird. «Das wird nicht funktionieren», so die Referentin. Als weitere Fehleinschätzung bezeichnete sie, dass es möglich sei, vorab zu berechnen, wieviel eine Patientenversorgung kosten darf.

Die Zahl der in der Schweiz ausgebildeten Ärzte reicht nicht aus

Auch die Vorstellung, dass der Staat bessere Tarife als Leistungserbringer und Versicherer, die täglich damit umgehen, macht, den Bedarf an Fachkräften korrekt prognostizieret und deckt oder staatliche Planungen und Vorgaben für mehr Effizienz sorgen, hält Dr. Siroka für falsch. In der Schweiz werden zwar mittlerweile mehr Ärzte ausgebildet. Das reicht jedoch bei Weitem nicht aus. Es besteht weiterhin eine massive Abhängigkeit vom Ausland, es kommen jedoch vor allem Spezialisten.

Ihrer Ansicht nach muss das Tarifsystem dringend reformiert werden, denn es bestehen massive Fehlanreize. Als Beispiel führte sie an, dass es im Grossraum St. Gallen nur noch einen konservativ tätigen Ophthalmologen gibt, aber sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die Katarakt-Operationen durchführen – Resultat von Fehlanreizen eines uralten Tarifsystems aus den 1990er-Jahren, so Dr. Siroka.

Rationierung besteht auch, wenn Mengen gesteuert werden. Um die echten Kranken quersubventionieren zu können, entsteht mehr Überversorgung bei Gesunden und Unterversorgung bei den Kranken. Bei einer Budgetierung droht eine Zweiklassenmedizin.

Dass eine Rationierung nicht einmal günstiger ist, zeigen die Beispiele Deutschland, Frankreich und Niederlande, so Dr. Siroka. So hatte Deutschland in 17 von 20 Jahren höhere Gesundheitskosten als die Schweiz. Die Deutschen zahlen mehr als 16 Prozent des Bruttolohns für die Krankenkasse, während die Schweizer nur sieben Prozent ausgeben. «Ich möchte nicht in 20 oder 30 Jahren, wenn ich die Hilfe brauche, in solch einem System Patientin sein», so Dr. Siroka.

Versorgungssicherheit in Gefahr

Dr. Felix W. Eymann
S. Volante

Dr. Felix W. Eymann, Präsident der MedGes Basel

Dr. Felix W. Eymann, Präsident der MedGes Basel, konstatierte, dass das partnerschaftliche Kommunikationsmodell zwischen Ärzten und Patienten heute State-of-the-Art ist. Als besonders wichtig erachtet er das Einplanen ausreichender Konsultationszeit, denn Studien konnten zeigen, dass das Informationsbedürfnis sehr hoch ist. In den letzten Jahren ist der Arztberuf jedoch aufgrund steigender Gesundheitskosten unter Druck geraten. «Wir stehen in der Verantwortung, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen haushälterisch umzugehen – aber ohne die Behandlungsqualität zu verschlechtern», so der Referent. Er kritisierte, dass die Medien und das Parlament immer wieder die ärztlichen Honorare für die die steigenden Gesundheitskosten verantwortlich machten. «Seit über 30 Jahren ist kein Rappen Teuerung in unseren Honoraren erfolgt – im Gegenteil.» In den geplanten Kontrollmassnahmen des Gesundheitswesens sieht er eine Gefährdung der Versorgungssicherheit. Mit den neuen Vorgaben ertrinken Arztpraxen und Spitäler in administrativen Massnahmen. Das Globalbudget würde zu einer Lohnkürzung aller im Gesundheitswesen Beschäftigter und einer Einschränkung der Medikamentensortimente und Materialien führen. «Es gibt bereits Forderungen, mit billigem Wegwerfmaterial zu operieren», so Dr. Eymann.