Sehr hohe Beteiligung an Berner Workforce-Studie 2020–2025 zum Mangel an Hausärzten
Dass uns eine Versorgungslücke in der Hausarztmedizin droht, ist keine neue Erkenntnis. Aber erstmals hat ein Forscherteam nun eine Studie mit Daten über einen grossen Kanton (Bern) erstellt, die man wirklich als aussagekräftig bzw. repräsentativ bezeichnen kann. Alle Grundversorger dieses Kantons konnten mit grosser Sicherheit identifiziert werden und 95 % von ihnen beteiligten sich an der Umfrage.
Seit einigen Jahren wird der drohende, respektive sich verschärfende Hausärztemangel in der Schweiz immer wieder thematisiert. Eine Differenzierung tut allerdings not. Während die Versorgung in den Städten und urbanen Zentren kaum Anlass zur Sorge gibt – vor allem nicht im internationalen Vergleich –, sieht die Zugänglichkeit zu den ambulanten Grundversorgern in den ländlichen Gegenden um einiges trister aus. Und Besserung ist nicht in Sicht – im Gegenteil.
Fundierte Rückschlüsse über den «wahren» Versorgungsnotstand der Gegenwart und der Zukunft konnten bislang aber nur bedingt gezogen werden. Wieviele Grundversorger z.B. gibt es überhaupt und wie sieht deren Pensum aus? Oder: In welchen Gebieten tut sich absehbar in fünf Jahren eine Versorgungslücke auf?
Jeder Fünfte hat sein Diplom im Ausland erworben
Mit solchen Fragen befassten sich Professor Dr. Sven Streit sowie Dr. Zsofia Rozsnyai vom Berner Institut für Hausarztmedizin. Unter ihrer Ägide entstand in der Folge die Berner Workforce-Studie 2020–2025. Im Auftrag unter anderem der FMH sowie kantonaler Ärzteorganisationen sollte die Versorgungssituation für diesen Kanton unter die Lupe genommen werden. Um möglichst solide Daten mit einer hohen Aussagekraft zu erhalten, wurde ein grosser Aufwand betrieben und ein neuer Ansatz gewählt. So stützen sich die Autoren bei ihren Recherchen auf das Medizinalberuferegister MedReg ab. Zudem wurden die Ärztinnen und Ärzte brieflich sowie online eingeladen und dreimal erinnert. Und schliesslich hakte man in über 400 Telefonanrufen bei allen nach, die nicht schriftlich mitmachten. Der Erfolg darf sich sehen lassen: Am Schluss beteiligten sich 95 % aller Grundversorger an der Studie.
Identifiziert wurden schliesslich kantonal 972 tätige Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung (851 Hausärzte und 121 Pädiater) mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren. Jede(r) Fünfte befand sich bereits im Pensionsalter. Das Arbeitspensum der Männer lag mit 83 % höher als bei den Frauen (64 %). 20 % der Grundversorger hatten das Diplom im Ausland erworben.
Die Frage nach einem Versorgungsmangel beantworteten 67 % der Hausärzte mit ja, bei den Pädiatern waren es 61 %. Auf eine Angabe, was Versorgungsmangel konkret in einer Zahl ausgedrückt bedeutet, wurde verzichtet. «Es gibt keine einheitliche Definition, ab wievielen Grundversorgern pro 1000 Einwohner ein Mangel besteht», so die beiden Autoren. 2020 habe die Aerztedichte im Kanton Bern 0,75 Vollzeitstellen pro 1000 Einwohner betragen, was ein Arzt pro 1333 Patienten bedeutet. Bis 2025 werde diese Dichte um weitere 25 % abnehmen. Für einige ländliche Gegenden wird Alarm geschlagen: Die Neue Zürcher Zeitung warf kürzlich die Frage auf, ob es dort bald nur noch einen Arzt pro 5800 Personen gäbe.
Viele nehmen keine Patienten mehr auf
Drei von fünf Hausärzten im Kanton Bern hatten 2020 selber einen Aufnahmestopp verfügt – einen kompletten oder zumindest einen teilweisen. Nur 40 % nahmen noch uneingeschränkt neue Patienten auf, was die Autoren unter Mitberücksichtigung der niedrigen Ärztedichte als «deutliche Anzeichen eines akuten Mangels» umschrieben.
Basierend auf Angaben der Grundversorger, wie deren Pensum bis 2025 aussieht, sowie auf Angaben über die Bevölkerungsentwicklung kamen Prof. Streit und Dr. Rozsnyai zum Schluss, dass es bis im Jahr 2025 mindestens 270 neue Grundversorger im Kanton Bern braucht, schon nur um den Status Quo mit der bestehenden Ärztedichte bei gleichbleibendem Pensum zu halten. Eine zusätzliche Herausforderung stelle die Nachfolgeregelung dar, weil 43 % der bis 2025 Zurücktretenden in Einzelpraxen tätig seien. Und last but not least: Die Autoren verzeichnen einen Trend zu niedrigeren Arbeitspensen bei der jüngeren Generation und setzen auch ein Fragezeichen beim externen Nachwuchs: Es sei keineswegs gesichert, dass die Unterstützung aus dem Ausland weiterhin 20 % betrage. Der Nachwuchs müsse vor allem aus dem Inland rekrutiert werden, fordern deshalb die beiden Studienverantwortlichen.
Zu ihren «key messages» gehört der Wunsch, dass sich die Ärzteschaft und die Politik gegenseitig unterstützen, um diesen Mangel an Hausärzten zu entschärfen. Als Massnahmen genannt werden die Verstärkung der Motivation für die Grundversorgung bei Nachwuchs in Studium und Weiterbildung. Ein spezielles Augenmerk gilt dem Praxisassistenzprogramm, das im Kanton Bern bereits eine erfolgreiche Vergangenheit hat und den jungen rekrutierten Absolventen die Möglichkeit gibt, Erfahrungen für das spätere Berufsleben in einer Praxis zu sammeln.
Grundversorger sind die wichtigste Anlaufstelle für Menschen mit gesundheitlichen Problemen. Gerade auch um eine Überlastung der Notfallstationen zu verhindern, wäre es wichtig, dass Patienten einen Hausarzt haben, der sie kennt und den sie bei einem gesundheitlichen Problem konsultieren können, betonte Dr. Rozsnyai abschliessend gegenüber der Medical Tribune.