Medical Tribune
14. Juni 2013

Physiotherapie: Reicht Telefon-Beratung?

Mit dem steigenden Anteil älterer Menschen wächst der Bedarf an medizinischer Versorgung und die Gesundheitssysteme könnten bald überfordert sein. Daher werden neue Wege der Versorgung gesucht: Ein Ansatz sind telefonische Beratungen, die sich schon in verschiedenen Bereichen bewährt haben.

Bei Arthrosen besser Beratung und Schulung statt Handanlegen

Eine britische Forschergruppe prüfte nun den Einsatz in der Physiotherapie. In Grossbritannien werden jährlich rund 1,2 Millionen “neue Patienten” mit muskuloskeletalen Erkrankungen vom Hausarzt zur Krankengymnastik geschickt. In einigen Gebieten müssen die Betroffenen Wochen oder Monate auf einen Termin warten. Dabei gibt es durchaus Krankheitsbilder wie Arthrosen, bei denen nicht unbedingt Handanlegen, sondern mehr Schulung und Beratung gefragt ist.

Die britischen Kollegen haben daher in einigen Regionen das System PhysioDirect eingeführt, bei dem Patienten zunächst für eine erste Beurteilung mit einem Physiotherapeuten telefonieren. Je nach Einschätzung folgen dann weitere Telefonate oder ein Besuch in der Praxis. Das Team um Professor Dr. Chris Salisbury vom Centre for Academic Primary Care der Universität Bristol verglich nun PhysioDirect mit herkömmlicher Behandlung (inklusive Wartezeit). Primärer Endpunkt war die subjektive physische Gesundheit nach sechs Wochen und sechs Monaten.

Durch telefonische Beratungen weniger Besuche beim Physiotherapeuten

Insgesamt nahmen an der Untersuchung 1283 Patienten in der Telefongruppe und  629 in der mit konventioneller Therapie teil. 47 % im PhysioDirect-Kollektiv konnten allein über die mündliche Beratung “behandelt” werden. Insgesamt hatten sie weniger persönliche Verabredungen mit den Therapeuten (1,91 vs. 3,11), ihre Wartezeit lag mit sieben gegenüber 34 Tagen deutlich niedriger und es war bei ihnen weniger wahrscheinlich, dass keine Begegnung mit den Krankengymnasten stattfand.

Geringere Zufriedenheit bei telefonisch "behandelten" Patienten

Nach sechs Wochen fand sich bezüglich der physischen Gesundheit ein leichter Vorteil für die PhysioDirect-Gruppe, nach sechs Monaten lagen alle Probanden gleichauf. Was die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit oder unerwünschte Ereignisse betraf, fanden sich keine Unterschiede. Die telefonisch Versorgten zeigten sich etwas weniger zufrieden mit der Therapie als die herkömmlich Behandelten.

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass PhysioDirect bei schnellerer Verfügbarkeit in der klinischen Effektivität der klassischen Physiotherapie gleichzusetzen ist und vor allem eine Option für Patienten darstellt, die den Weg bis zur Behandlung abkürzen wollen.

Quelle: Chris Salisbury et al., BMJ 2013; online first

Kommentar:

"Krankengymnastik ohne Untersuchung in Deutschland tabu"

Die Berichterstattung über die britische Studie löst hierzulande in Fachkreisen grosses Erstaunen aus. Aus deutscher Sicht stellt sich das Ganze als eigentümlicher Problemlösungsansatz in der Mangelverwaltung für medizinische Leistungen im britischen Gesundheitswesen dar. Beruhigend ist immerhin eines: dass es den telefonisch beratenen Patienten nach sechs Monaten nicht schlechter ging als den übrigen. Vergleichbar lange Wartezeiten auf eine verordnete physiotherapeutische Behandlung gibt es in Deutschland nicht. Die britische Problemlösung ist hierzulande wohl auch deshalb noch nie angedacht, geschweige denn ausprobiert worden.


Und es stellen sich aus fachlicher Sicht doch einige Zweifel ein. Natürlich kennen Physiotherapeuten und Masseure auch hierzulande das Prinzip des Eigenübungsprogramms für den Patienten. Indes ist es für hiesige Therapeutinnen und Therapeuten ein absolutes “No-Go”, einem Patienten ohne eigene Untersuchung Hinweise für bestimmte Aktivitäten zu geben. Davon abgesehen, lassen sich Eigenübungen am Telefon nur unzureichend erklären und der Therapeut kann auch nicht feststellen, ob der Betroffene die Erklärungen richtig verstanden hat und umsetzen kann.

Eine rein telefonische Anweisung würde man daher hierzulande nicht als hilfreich, sondern eher als Risiko für die Patientengesundheit ansehen. Allerdings muss darüber nachgedacht werden, wie künftig eine flächendeckende und qualitativ hochstehende physiotherapeutische Versorgung in Deutschland gesichert werden kann. Denn nicht zuletzt wegen der katastrophal schlechten Leistungsvergütungen im System der gesetzlichen Krankenversicherung stellt sich bereits ein bemerkbarer Mangel an qualifizierten Fachtherapeutinnen und -therapeuten ein. “Insellösungen” wie in der Studie sollten dennoch in Deutschland tabu sein.

Dr. jur. Michael Stehr, 
Bundesgeschäftsführer des VDB-Physiotherapieverbandes