Medical Tribune
7. Juli 2023Künftig kommen die Brain Health Services vor der Memory Clinic

Demenz bald vermeiden statt behandeln

Risikofaktoren für eine Demenz tragen viele Menschen im mittleren und höheren Lebensalter. Für sie braucht es mehr und bessere Angebote zur Prävention, so das Fazit dreier Experten am EAN2023. Denn dass bestimmte Massnahmen wirksam sind, ist mittlerweile mehr als klar.

Am EAN 2023 diskutierten Experten über die Zukunft der Prävention von Demenz.
EAN 2023, virtual platform

«Was bietet man Menschen an, die über kognitiven Abbau klagen – die aber auf den gängigen Tests für Gedächtnisleistung im Normalbereich liegen?» Das ist die Frage, die unter anderem Professor Dr. Giovanni Frisoni, Leiter der Memory Clinic der Genfer Universitätsklinik für Neurologie, schon seit Längerem umtreibt.

«Für sie können wir aktuell nur wenig tun.» Denn für eine Therapie, etwa mit einem der zugelassenen Antidementiva, braucht es eine nachgewiesene Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit.

Präventionskonzepte für Menschen mit erhöhtem Demenzrisiko noch ohne kognitive Einschränkung

Dabei tragen sehr viele Menschen Risikofaktoren für eine vaskuläre Demenz oder die Alzheimer-Krankheit, haben aber hat noch keine nachweisbaren Symptome für eine Demenz. Mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Überalterung wird diese Personengruppe noch grösser werden, vermutet Prof. Frisoni.

Zu den Betroffenen zählen dabei etwa kognitiv normale Personen mit Nachweisen für Beta-Amyloid- oder Tau-Protein im Liquor, die Genmutation ApoE4, oder eine Neurodegeneration. «Und noch mehr Menschen haben einen oder mehrere der zwölf bekannten lebensstilbezogenen und potenziell modifizierbaren Demenz-Risikofaktoren (siehe Kasten)», berichtet Prof. Frisoni.

Welche Faktoren erhöhen das Demenz-Risiko?

  1. Niedrige Bildung
  2. Hörverlust
  3. Traumatische Hirnverletzungen
  4. Bluthochdruck
  5. Übermässiges Trinken von Alkohol
  6. Adipositas
  7. Rauchen
  8. Depression
  9. Soziale Isolation
  10. Körperliche Inaktivität
  11. Diabetes
  12. Luftverschmutzung

In einer europäischen Task Force arbeitet Prof. Frisoni aktuell ein neues Präventionskonzept aus. Diese «Brain Health Services» sollen künftig Risikopatienten angeboten werden können (2). Erste breite Implementierungen werden für das Jahr 2030 erwartet. Aufgabe der Brain Health Services wird es künftig sein, das Erkrankungsrisiko zu kalkulieren, es dem Betroffenen zu kommunizieren, und ein personalisiertes Präventionsschema zusammenzustellen.

Welche Interventionen eine Demenz wirklich verlangsamen können

Darüber, wie präventive Interventionen aussehen können, hat sich Dr. Nicolas Villain, PhD, Neurologe am Pariser Pitié-Salpêtrière-Krankenhaus für den EAN beschäftigt. «In der Frage, was sich tun lässt, um das Demenzrisiko zu reduzieren oder das Fortschreiten einer Demenz zu verlangsamen, gibt es eine Menge Pseudowissenschaft», so sein Fazit.

Ein Beispiel für dubiose Massnahmen ist für Dr. Villain das Buch «The end of Alzheimer’s», in dem behauptet wird, dass darin vorgeschlagene Massnahmen eine Demenz umkehren können. Ein Online-Kurs, der basierend auf das Buch angeboten wird, verspricht zudem eine individualisierte Behandlung – einem speziell angemischten Supplement-Cocktail inklusive. 5.000 Dollar verlangen die Anbieter mitunter für die Teilnahme an dem Training, berichtet Dr. Villain. Solide Evidenz für diese Behauptungen gebe es hingegen nicht. Viele seiner Patienten würden das Buch kennen, und es sei immer noch viel in den Medien. «Wir müssen uns aber auf die wissenschaftlichen Daten stützen.»

Das höchste Evidenzlevel für die Reduktion des Demenzrisikos kommt hingegen aktuell aus randomisierten kontrollierten Studien, allen voran jene zu den FINGER-Interventionen. Die FINGER-Studien (3) wurden ab dem Jahr 2010 durchgeführt. Darin eingeschlossen wurden Personen mit erhöhtem Demenzrisiko entsprechend der CAIDE-Skala (siehe Kasten). Sie konnten zeigen, dass multidimensionale Interventionen, die zumindest aus

  • Ernährungsberatung
  • Körperliche Aktivität
  • Kognitive Trainings, und dem
  • Monitoring metabolischer und vaskulärer Risikofaktoren

bestanden, den kognitiven Abbau verhindern oder verlangsamen konnten.

Die Stärke der FINGER-Interventionen besteht dabei unter anderem darin, dass es mehrere unterschiedliche Interventionstypen gibt. Damit fällt es Patienten leichter, zumindest einige davon einzuhalten. «Man muss sich also nicht in jedem Bereich dramatisch ändern», sagt Dr. Miia Kivipelto, Professorin für klinische Geriatrie am Schwedischen Karolinska-Institut, die die FINGER-Studien leitet.

Mit Hörgeräten und Antidepressiva gegen die Demenz vorgehen

Eine meist niedrige bis mittlere Evidenzlage gibt es auch für die therapeutische Eliminierung von individuellen Risikofaktoren («pick and treat»). Diesbezügliche Daten stammen zumeist aus prospektiven Kohortenstudien.

Seit diesem Jahr gibt es eine beispielsweise eine Metastudie, die bestätigt, dass das Tragen von Hörgeräten bei Personen mit einem Hörverlust den kognitiven Abbau verlangsamen kann (4). Ähnliches konnte für die Behandlung einer Depression (5,6), den kompletten Rauchstopp (5, 7) und die Blutdrucksenkung beschrieben werden (5,8).

Wer profitiert am meisten?

Doch wann sollte man bei Patienten am besten eingreifen? Einige Hinweise darauf kommen aus Subgruppenanalysen der vorhandenen randomisierten kontrollierten Studien. Diese zeigen einerseits, dass die getesteten multidimensionalen Interventionen speziell dann funktionierten, wenn die Patienten wirklich ein erhöhtes Risiko für eine Demenz hatten. Denn während diese in den FINGER-Studien, wo Patienten nach strengen Risikokriterien ausgewählt wurden, einen Nutzen zeigten, hatten sie keinen messbaren Effekt in Untersuchungen mit weniger klar definierten Risikokriterien (z.B. nur Alter oder leichte kognitive Einschränkungen (9,10).

Zieht man aber z.B. in der negativen MAPT-Studie nur die Patienten heran, die auch einen hohen CAIDE-Score hatten oder Amyloid-positiv waren hatten, sieht man, dass die multidimensionalen Interventionen hier auch Erfolg hatten (9, 11).

Andererseits scheint es auch ein «zu spät» für die Demenzprävention zu geben. «In den FINGER-Studien funktionierten die Interventionen nicht mehr so gut, wenn Personen bereits deutliche Hirnatrophien hatten.» Und in der Predictors-Studie (10), bei der die Interventionen in der Gesamtpopulation negativ verlaufen waren, zeigten sich in der Subgruppenanalyse Erfolge bei Studienteilnehmern ohne kardiovaskuläres Risiko.

Welche Wirkstoffe bald zur Prävention eingesetzt werden könnten

Neben Lebensstilinterventionen könnte es bald auch medikamentöse Optionen zur Demenzprävention geben. Zwei Studien (AHEAD, TRAILBLAZER-ALZ3) testen aktuell monoklonale Antikörper gegen Amyloid-Beta-Protofibrillen als Prophylaxe bei Personen ohne Demenz aber mit erhöhten Amyloid-Leveln. Und auch die klassischen Impfungen könnten laut Prof. Villain bald wieder im Rennen sein. «Einige Tau-Vakzine befinden sich in Phase-I oder -II-Studien.» Durch die Impfung gegen das Tau-Protein soll die Tau-Last im Gehirn gesenkt werden. Getestet werden sie aktuell bei asymptomatischen Personen mit Hinweisen auf Tau-Aggregate im Gehirn.

In anderen Gebieten ist die Forschung noch nicht so weit, berichtet Dr. Miia Kivipelto, Professorin für klinische Geriatrie am Schwedischen Karolinska-Institut, die auch die FINGER-Studien leitete. «Nur rund bei der Hälfte der Personen, die mit Symptomen einer Demenz zu uns in die Memory Clinic kommen, finden sich eine Amyloidose oder Tau-Aggregate,» berichtet sie. Nur sie würden sich für eine eventuelle Therapie mit Anti-Amyloiden oder Anti-Tau-Massnahmen qualifizieren. «Bei der anderen Hälfte gibt es Krankheitshintergründe, die wir noch nicht kennen.» Diese zu identifizieren ist laut der Expertin aktuell eine der wichtigsten Aufgaben der Demenzforschung.

Der CAIDE-Score identifiziert ein erhöhtes Demenzrisiko

Die randomisierten kontrollierte FINGER-Studien wurden an Personen mit hohem Demenzrisiko durchgeführt. Ein hohes Risiko war mittels der CAIDE-Skala definiert. Eingeschlossen wurden Personen ab einer Punktezahl von sechs nach CAIDE, sowie einer leichten kognitiven Einschränkung.

CAIDE-FaktorenPunkte
Alter
<47 Jahre
47-53 Jahre
>53 Jahre

0
3
4
Geschlecht
Frauen
Männer

0
1
Ausbildung
≥10 Jahre
7-9 Jahre
0-6 Jahre

0
2
3
Systolischer Blutdruck
≤140 mmHg
>140 mmHg

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