Der Biomarker NfL verspricht für die Zukunft noch einiges
Die Multiple Sklerose (MS), auch als Krankheit mit 1.000 Gesichtern bezeichnet, stellt in der Therapie und Forschung eine besondere Herausforderung dar. Die Behandlung erfordert ein hohes Mass an individueller Betreuung und personalisierte Therapieansätze. Professor Dr. Jens Kuhle vom Universitätsspital Basel arbeitet und forscht schon lange auf diesem Gebiet. Mit dem Biomarker NfL (leichte Kette der Neurofilamente) ist ihm mit seinem Team ein Durchbruch gelungen, der über die MS hinaus von sich reden macht.
Zum Zeitpunkt des Interviews hat Prof. Kuhle etwas mehr Zeit für andere als sonst – unfreiwillig. Er zog sich beim Skifahren eine Schulterverletzung zu und ist deshalb vorübergehend krankgeschrieben. Wenigstens seine Frau und seine drei Jungs bekämen ihn jetzt ein bisschen mehr zu sehen.
«Mein Beruf ist halt gleichzeitig mein Hobby», räumt der 49-Jährige fast entschuldigend in seinem Büro am Universitätsspital Basel ein. Im Zentrum seiner Aktivitäten steht die Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose. Prof. Kule hat in Tübingen studiert und seine Doktorarbeit über autoimmune T-Zellen verfasst.
Abgesehen von einem zweijährigen Aufenthalt an der Queen Mary Universität in London, wo er seine Forschung zu flüssigen Biomarkern – insbesondere NfL – entscheidend weiterentwickelte, arbeitet er jetzt seit genau zwei Jahrzehnten ununterbrochen am Universitätsspital und dem Multiple-Sklerose-Zentrum in Basel.
Faszination für MS schon während des Studiums
«Schon während meines Studiums ist mir aufgefallen, wie oft gerade junge Menschen in ihren aktiven Jahren von dieser Krankheit befallen werden, die sie dauerhaft begleitet», erinnert er sich. Dieser Umstand war ihm Anreiz und Motivation, sich vertieft mit MS auseinanderzusetzen. Die Krankheit fasziniert den Neurologen aber auch aus klinischer Sicht. «Bei fast keinem anderen Krankheitsbild in der Neurologie gibt es derart viele Medikamente und Therapieoptionen.»
Die Erkrankung, von der in der Schweiz etwa.15 000 bis 17.000 Menschen betroffen sind, gibt der Wissenschaft noch etliche Rätsel auf. Weder Ätiologie noch Risikofaktoren sind vollständig geklärt. «Es gibt ein Nord-Südgefälle. Je weiter entfernt jemand vom Äquator lebt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit einer MS-Erkrankung», berichtet Prof. Kuhle.
Vielleicht spielt die unterschiedliche Sonneneinstrahlung (Vitamin D als Schutzfaktor) eine gewisse Bedeutung, vermutlich auch andere Umweltfaktoren, und eine erbliche vermehrte Anfälligkeit. Diese vermehrte Anfälligkeit ist aber nur ein Faktor unter vielen: «Wir sagen unseren Patientinnen und Patienten deshalb auch, dass eine Vererbung der Krankheit wenig wahrscheinlich ist und nichts gegen einen Kinderwunsch spricht», so Prof. Kuhle.
Bei der Behandlung auf Nummer sicher gehen
Jeder Krankheitsfall ist zudem sehr individuell. Auch ohne Behandlung kann ein kleiner Anteil der MS-Betroffenen langfristig ohne oder mit nur wenigen Beschwerden leben. «Es kann aber auch sein, dass ein MS-Patient nach der Diagnose innerhalb eines Jahres an den Rollstuhl gefesselt ist.» Das sei heutzutage aber eher selten.
Doch was bedeutet das für die Therapie? Weil individuelle Voraussagen über den Krankheitsverlauf schwierig bis unmöglich sind, geht man von Beginn an auf Nummer sicher. Liegt die Diagnose MS vor, werden Betroffene prinzipiell bevorzugt mit hocheffektiven Medikamenten behandelt. Aus guten Gründen: Es gibt eine Reihe sehr gut wirksamer und verträglicher Medikamente, die nur in sehr seltenen Fällen Nebenwirklungen haben, erklärt Prof. Kuhle.
So lässt sich der Verlauf der Krankheit in vielen Fällen stoppen. Die Therapien seien für die meisten Patientinnen und Patienten nur wenig belastend. «Infolge der immunsuppressiven Behandlung mit MS-Medikamenten kann sich bei einigen Patienten jedoch das Risiko für Infektionen erhöhen.»
Bei einem relevanten Anteil der Betroffenen – besonders wenn natürliche Alterungsprozesse und Begleiterkrankungen dazukommen – kommt es zu einer schleichenden Verschlechterung. Die Möglichkeiten, die Progression zu beeinflussen, sind begrenzt, aber je nach Fall vorhanden. «Wir beziehen uns stets auf Mittelwerte, so dass bei jedem Betroffenen der Krankheitsverlauf und das Ansprechen auf einzelne Medikamente eingeschätzt werden muss.»
MultiSCRIPT prüft personalisierte Behandlung
Alle MS-Patienten nach der Diagnose zu behandeln, bedeutet, dass ein Teil von ihnen übertherapiert wird. Diese Betroffenen herauszufiltern und ihnen eine adäquate Behandlung zukommen zu lassen, ist unter anderem Teil seiner langjährigen Forschung: Die Schlagwörter heissen MultiSCRIPT-Studie und der Biomarker NfL, ein Protein, das nur in Nerven vorkommt.
Mit der MultiSCRIPT-Studie innerhalb der Schweizer MS-Kohortenstudie wurde am Universitätsspital Basel eine Plattform geschaffen, um neuartige personalisierte Behandlungen für die MS zu entwickeln und als Teil der Standardversorgung zu evaluieren. In MultiSCRIPT werden den Patienten der Schweizer MS-Kohortenstudie regelmässig leichte Anpassungen der Standardbehandlung angeboten, die jeweils auf ihre individuellen Umstände zugeschnitten sind.
Mit NfL die Krankheitsaktivität messen
Es ist noch nicht klar, ob diese Veränderungen wirklich die Krankheit und die Lebensqualität verbessern. Deshalb werden die Effekte fortlaufend mit dem bislang üblichen Vorgehen verglichen und so ein Lernprozess in Gang gesetzt, der zu einer stetigen Verbesserung der Behandlung führt, so Prof. Kuhle.
Das interdisziplinäre Team setzt sich aus Fachkräften der Neurologischen Klinik und der Poliklinik, dem MS-Zentrum sowie RC2NB, dem Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience, zusammen. Mit dieser Studie soll die Behandlung der MS kontinuierlich verbessert und geklärt werden, wie MS-Betroffene möglichst wenig, aber so viel wie nötig und zum richtigen Zeitpunkt behandelt werden.
Und der Biomarker NfL? «Hier geht es unter anderem darum, die Krankheitsaktivität genauer messen und die MS-Medikamente gezielter einsetzen zu können. Vielleicht kann man in Zukunft mit derart genauen Biomarkern einzelne Patientinnen und Patienten herauspicken, welche auch ohne Medikament vollkommen stabil wären», erklärt Prof. Kuhle. «Vielleicht brauchen sie dieses Medikament also gar nicht oder allenfalls in einer schwächeren Form».
Auch bei Menschen mit nach herkömmlichen Kriterien scheinbar nicht progredienter MS könnten NfL-Messungen eine relevante Krankheitsaktivität anzeigen. Wie sich die Nervenschädigung bei MS anhand von NfL erfassen lässt, publizierten die Forscherinnen und Forscher im vergangenen Jahr unter anderem in der renommierten Fachzeitschrift Lancet Neurology.
Im Einklang mit acht MS-Zentren
Mit der MultiSCRIPT-Studie, bei der acht MS-Zentren in der Schweiz mitmachen, will man nun als erstes den Mehrwert von NfL prospektiv untersuchen. «So kann die Therapie individuell angepasst werden, wenn das NfL hoch oder tief ist», so der Experte. Ein hohes NfL spreche eher für die Intensivierung der Therapie oder ein stärkeres Medikament.
Bei einem dauerhaft tiefen Wert könne man zukünftig das Medikament vielleicht sogar stoppen. «Aber da sind wir vorsichtig. Das hat weltweit noch niemand gemacht.» Ob NfL schon heutzutage bei der Wahl der individuell besten Therapieoption geeignet ist, soll MultiSCRIPT zeigen.
Mehr als 1500 Patientinnen und Patienten sind in dieser MS-Kohorte integriert und über 250 000 Blutproben gesammelt worden. Aber um echte Evidenz zu generieren, reicht das alleine noch nicht. «Wir müssen zusätzliche Studien innerhalb der Kohorte einbauen», führt Prof. Kuhle aus.
NfL-Potenzial geht über die MS hinaus
Das Potenzial von Erkenntnissen gehe beim NfL, das an der Schwelle zur klinischen Anwendung stehe, zudem weit über MS hinaus, gibt sich Prof. Kuhle optimistisch. «NfL ist nicht spezifisch für MS», klärt er auf. «Auch bei einem Schlaganfall oder bei Amyotrophe Lateralsklerose beispielsweise werden Nerven zerstört.»
Der Marker liefert zuverlässige Indizien für den Zustand der Nerven, respektive den Nervenabbau. Erst kürzlich ist ein Medikament für ALS vor allem deshalb zugelassen worden, weil der NfL-Wert unter dieser Therapie deutlich gesunken ist.
«NfL ist ein enorm wichtiges Tool, auch bei anderen Krankheiten wie etwa Alzheimer-Demenz, wofür es heute noch keine breit verwendeten Medikamente gibt. Eventuell können durch den Biomarker Patienten, die auf eine bestimmte Therapie ansprechen, früh identifiziert und so die Anwendung verschiedener Medikamente präzisiert werden.»
In den letzten Jahren haben zahlreiche Firmen diesen Biomarker adaptiert und in ihre Studienprogramme aufgenommen. Prof. Kuhle kann sich durchaus vorstellen, dass der NfL-Wert eines Tages, genauso wie heute der Blutdruck oder das Cholesterin, zum Standardprogramm einer gesundheitlichen Abklärung gehört. «Ein normales NfL kann Patienten, jung oder alt, zusätzliche Sicherheit geben. Sie wüssten dann mit hinreichender Sicherheit – zumindest bei normalen Werten –, dass mit ihren Nerven strukturell alles in Ordnung ist.»
Allerdings muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich der NfL-Wert zwischen dem 20. und dem 60. Altersjahr ungefähr verdoppelt und auch vom Gewicht abhängig ist. Eine grosse Referenzdatenbank ist vor kurzem erstellt worden.
Im Gespräch mit Prof. Kuhle ist seine Freude zu den aktuellen Entwicklungen rund um NfL spürbar: «Als ich mich vor 15 Jahren mit diesem Marker zu beschäftigen begann, war ich noch ein ziemlich einsamer Forscher. Das Potenzial dieses Proteins ist damals noch verkannt worden.»
In Kürze
Prof. Dr. Jens Kuhle (49), aufgewachsen in Nagold und Tübingen, arbeitet seit zwei Jahrzehnten im Universitätsspital Basel. Er fungiert dort als Leiter des Multiple-Sklerose-Zentrums und der Schweizer MS-Kohortenstudie sowie als Forschungsgruppenleiter an den Departementen Klinische Forschung und Biomedizin und am RC2NB. Für seine Forschung auf dem Gebiet der MS wurde er in diesem Jahr (zusammen mit seinem Kollegen Prof. Tobias Derfuss) mit dem erstmals verliehenen Preis der Schweizerischen Gesellschaft für Multiple Sklerose ausgezeichnet. Jens Kuhle ist verheiratet, Vater dreier Kinder und wohnt in Oberwil.