Medical Tribune
29. Apr. 2023Was ist dran am Märchen von den vergesslichen Mamas?

Für das «Mommy-Brain» gibt es mehr soziale als neurologische Gründe

«Mama-Gehirn», «Mommy-Brain», «Momnesie» oder «Stilldemenz»: Hinter diesen Begriffen steckt die weitverbreitete und Jahrzehnte alte Annahme, dass die Zeit vor und nach der Geburt eines Kindes mit Gedächtnislücken oder gar einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten der Mutter verbunden ist. Die Basis dieser Hypothese scheint allerdings primär gesellschaftlicher Natur zu sein.

Das «Mommy-Brain» ist eher Resultat der Umstände und Erwartungen durch die Elternschaft.
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Bis zu 80 Prozent der Schwangeren berichten über einen gewissen subjektiven Gedächtnisverlust. Frisch gebackene Mütter beschreiben nach der Geburt Ähnliches. Zu klären, wie die wissenschaftliche Basis dafür aussieht, war das Ziel eines aktuellen Übersichtsartikels (1).

Natürlich muss man kognitive Einbussen bei Patientinnen immer ernst nehmen, schreiben die Autoren. Nur scheint es vielmehr das unausweichliche Narrativ des Mama-Gehirns, das zu diesen subjektiven Berichten beiträgt.

In ablenkungsarmer Laborumgebung funktioniert auch das Gehirn von Eltern

Den subjektiven Berichten der Mütter über ihren Gedächtnisverlust stehen empirische Studien gegenüber, in denen sich das Gedächtnis von Schwangeren bzw. Müttern nur selten und vor allem nicht signifikant von dem von kinderlosen Frauen unterschied. Hierfür gibt es nach Ansicht der Autoren verschiedene Gründe. In erster Linie spielt die Laborumgebung eine Rolle. Objektive Gedächtnistests werden bei nur minimalen Ablenkungen durch die Umgebung durchgeführt – das entspricht kaum der Elternrealität.

Ein zweiter Grund liegt in persönlichen Erwartungen und Bewertungen, die alltäglicher Vergesslichkeit mehr Bedeutung beimessen. Verlegt eine Frau dann den Schlüssel, wird es auf die Stilldemenz geschoben, die damit schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Und auch bei Forschenden, die sich mit diesem Thema beschäftigen, lässt sich nicht ausschliessen, dass sie entsprechende Daten durch die Brille des Mommy-Brains sehen – sie wurden ebenfalls gesellschaftlich ­geprägt.

Fokus verschiebt sich in dieser Lebensphase

Was sich hingegen zeigen liess, war, dass sich während und nach der Ankunft der Kinder die strukturelle Plastizität in Gehirnen von Eltern verändert. Oft verringert sich das Volumen der grauen Substanz in präfrontalen Regionen und dem Hippocampus. Demgegenüber stehen ein generell besseres Langzeitgedächtnis, eine bessere Lernleistung bei Schwangeren sowie verbesserte kognitive und emotionale Fähigkeiten bei Eltern insgesamt.

Die morphologischen Veränderungen bei werdenden Müttern ähneln in ihrem Ausmass denen während der Adoleszenz, woraus sich die Bezeichnung Matreszenz ableitet. Hormonell bedingte Veränderungen betreffen die Bereiche Aufmerksamkeit, Motivation, Kognition und Verhalten. Schliesslich verschiebt sich in dieser Lebensphase der Fokus auf die Bedürfnisse und das Überleben des Nachwuchses.

«Mommy-Brain» ist eine Flucht aus der Rolle der «perfekten Mutter»

Dass die Stilldemenz weiterhin ein Thema ist, hat nach Ansicht der Autoren historische Gründe. Lange wurden Betreuungsarbeit und Fähigkeiten von Müttern unterbewertet. Auch heute noch verkennen viele die mentale Belastung durch die Mutterschaft. Das Mommy-Brain könnte genauso gut als Coping-Strategie angesehen werden, die einen «Ausweg» aus der Vorstellung der perfekten, sich kümmernden Mutter schafft.

Während die Aufmerksamkeit der Schwangeren und Forscher also auf eine potenziell verringerte kognitive Funktion gelenkt wird, ignorieren sie gleichzeitig Fähigkeiten, die während dieses Lebensabschnitts hinzugewonnen werden. Das Narrativ müsse insgesamt neu gedacht werden, um die Anpassung des Gehirns an die bemerkenswerten Leistungen von Eltern anzuerkennen, fordern die Autorinnen.