Medical Tribune
23. März 2013Ethische Entscheidungsfindung

“Lieber tot sein als schwerbehindert leben!”

Junge Patientin mit schwerer Hirnblutung – soll man um ihr Leben kämpfen oder sie sterben lassen? Ein Experte erläuterte anhand einer eindrucksvollen Kasuistik ein Konzept ethischer Entscheidungsfindung. Für die Familie spricht alles dafür, die Therapie einzustellen, für die Ärzte (vor allem die Neurochir-urgen) besteht kein Zweifel: Maximalprogramm fahren. Wie findet man die beste Lösung im Sinne der Patientin?

Professor Dr. Georg Marckmann vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München, nahm die hausärztlich tätigen Seminarteilnehmer an die Hand: Nach dem Konzept der prinzipienorientierten Falldiskussion erarbeiteten sie eine Entscheidung.

Das klinische Fallbeispiel

Aus heiterem Himmel hatte die 43-Jährige eine Aneurysmaruptur und Subarachnoidalblutung entwickelt. Trotz umgehender neurochirurgischer Versorgung stieg im Verlauf der folgenden Tage der Hirndruck an, es folgte eine Hemikraniektomie. Als man die Sedierung verringerte, öffnete die Frau nach sieben Tagen die Augen und drückte die rechte Hand, sprechen konnte sie nicht.

Im CT stellten sich multiple Ischämiezonen – vermutlich Folgen rezidivierender Gefässspasmen – im Mediastromgebiet beider Hirnhälften dar. In der Akutsituation war mit der Familie der ledigen, kinderlosen Patientin (Eltern, Bruder) beschlossen worden, die Intensivtherapie nicht zu erweitern, was im Klartext hiess: Keine Katecholamine, keine Reanimation, keine Dialyse. Allerdings atmete die Patientin seit zehn Tagen intermittierend und seit zwei Tagen kontinuierlich spontan. Nun stand angesichts des erneut steigenden Hirndrucks (Bildung eines Liquorkissens an der Kraniotomiestelle) eine schwierige Entscheidung an.

Die Neurochirurgen sahen die Indikation zur Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts gegeben. Der Vater der Patientin (inzwischen auch als Betreuer eingesetzt) widersprach: Das hätte seine Tochter nicht gewollt. Die Beratung durch das klinische Ethikkomitee war gefragt.

Abschätzen der Prognose

Von medizinischer Seite, erklärte Prof. Marckmann den Seminarteilnehmern, war die Prognose nicht genau abschätzbar, starke körperliche/geistige Einschränkung aber zu erwarten, sollte die Patientin die akute Phase überstehen. Bestenfalls rechnete man mit leichter Behinderung und leicht eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit, schlimmstenfalls mit schwerer Behinderung. Ihren Beruf im internationalen Marketing würde die Frau wohl nie mehr ausüben können.

Patientenverfügung liegt vor

Obendrein hat die Patientin bereits im Alter von 29 Jahren eine Patientenverfügung verfasst: "... falls ich in einen Zustand gerate, in welchem ich meine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit unwiderruflich verloren habe, will ich, dass man auf Massnahmen verzichtet, die nur noch eine Sterbens- und Leidensverzögerung bedeuten würden ..." Diese Verfügung hatte die junge Frau erstellt, nachdem zwei Menschen im Bekanntenkreis schwere Hirnschäden erlitten hatten und die Frau eine vergleichbare Situation für sich ausschliessen wollte.

Die Angehörigen ...

Eltern und Bruder beschrieben die Patientin als weltoffene, ehrgeizige, aktive Frau. Sie habe mehrere Sprachen gesprochen und sei beruflich viel im Ausland gewesen. Da diese Lebensqualität für immer verloren war, stand für die Angehörigen der Verzicht auf den Shunt ausser Frage.

Die Neurochirurgen ...

Die Neurochirurgen verwiesen dagegen auf die keinesfalls klar einschätzbare Prognose. Der Verzicht auf den Shunt bedeutete für die Kollegen: tatenlos zusehen, wie es zur Hirnstammeinklemmung kommt.

Strukturierte Falldiskussion

Engagiert liessen sich die über 20 Teilnehmer des Kongress-Seminars auf die Fünf-Schritte-Diskussion mit Prof. Marckmann ein.

Analyse:

Bei der Analyse (medizinische Aufarbeitung des Falles) wurde keine Einigung erzielt. Während einige Kollegen die Prognose als hoffnungslos einschätzten, warfen andere die gute Regenerationsfähigkeit des noch relativ jungen Gehirns in die Waagschale. Andere meinten, dass die Patientin auch bei eventuellen Behinderungen eine passable Lebensqualität erreichen könne. Ausserdem treffe der Passus der Verfügung "unwiderruflich verlorene Entscheidungsfähigkeit" nicht unbedingt zu. Bei Abwägung aller Statements resümierte Prof. Marckmann nach rund 15-minütiger Diskussion: "Aus rein medizinischer Sicht haben wir keine Einigung erzielt, aber eine Tendenz pro Shunt erarbeitet."

Bewertung 1 und 2:

Bei der ersten Bewertung mit Fokus auf der Patientenautonomie und Fürsorgeperspektive (Wohl des Patienten) wurde es bei den Interventions-Befürwortern deutlich stiller, und noch mehr bei der zweiten Bewertung (ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten). Durch die sehr entschiedenen und wohlüberlegten Argumente von Eltern und Bruder, werde klar, dass man sich in der Familie intensiv und offen mit dem Thema Sterben auseinandergesetzt habe, so der Experte.

Synthese:

Bei der Synthese fand sich schliesslich unter den hausärztlichen Teilnehmern keiner mehr, der den Shunt vehement verfechten wollte. Und so war es auch in dem echten Fall an der Münchener Klinik. Von den Teilnehmern der ethischen Falldiskussion sprachen sich die anfangs zweifelnden Anästhesisten zunehmend dafür aus, dem Wunsch der Patientin und ihrer Familie zu folgen, das "Gegenhalten" der Neurochirurgen wurde schwächer.

Kritische Reflexion des Falles:

Auch bei der abschliessenden Reflexion des Falles (stärkster Einwand? Vermeidung möglich?) änderte sich nichts daran, dass sich die Waagschale auf eine Seite gesenkt hatte. "Wir entschieden letztendlich, keinen Shunt anzulegen, und die Patientin ist nach einer Woche verstorben," berichtete Prof. Marckmann. "Auch wenn mich diese Kasuistik als Hausarzt nicht direkt betrifft, so war es für mich sehr lehrreich", erklärte ein Seminarteilnehmer. An ethische Grenzen geraten "Frontkämpfer" oft genug.

Quelle. 48. Ärztekongress der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg