Keine Gnade für die Wade
ZÜRICH – Seit vielen Jahren widmet sich Dr. Kurt-Aurel Stoessel, 58, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, in seiner Freizeit dem Radsport. Dieses Jahr plant er, die Strecke des Navad-1000 von Romanshorn nach Montreux erneut in Angriff zu nehmen.
«Beim Radfahren lernt man ein Land am besten kennen, weil man dessen Hügel empor schwitzt und sie dann wieder hinuntersaust», sagte einst der Schriftsteller Ernest Hemingway. Mit diesem Zitat kann sich der Zürcher Gynäkologe Dr. Stoessel, der täglich mit seinem Fahrrad von seinem Wohnort Meilen nach Zürich fährt, gut identifizieren, lernte er sein Heimatland doch dank seiner zahlreichen anstrengenden Radtouren von einer neuen Seite kennen. «Wenn es morgens um fünf Uhr hell wird, die Sonne allmählich aufgeht und man die pittoresken Landschaften mit dem Bike durchstreift, scheint die Schweiz nahezu menschenleer zu sein. Lediglich zahlreiche Kühe grasen im Halbkreis auf den saftig grünen Wiesen», sagt der Facharzt mit einem Augenzwinkern.
Während seiner Tätigkeit als Oberarzt im Kantonalen Frauenspital Chur kam er immer öfter mit dem Radsport in Berührung und wagte sich allmählich auf den Gebirgsstock Calanda mit seinen vier Gipfeln. Mittlerweile gibt er auch zu, dass sportliche Aktivitäten mit einem gewissen Ehrgeiz verbunden sind, indem vorgegebene Ziele auch erreicht werden wollen.
Herausforderung als Chance: auf der Suche nach dem Kick
«Ein Stück weit bin ich wohl auch auf der Suche nach einem gewissen Kick, indem ich versuche, meine eigenen Grenzen auszuloten. Es handelt sich diesbezüglich um einen willkommenen Ausgleich zu meinem reglementierten Alltag als Gynäkologe mit eigener Praxis», so Dr. Stoessel, der bereits in jungen Jahren Ausdauersport betrieben hat und nach eigenen Aussagen ein Gefühl der Ausgeglichenheit und Leichtigkeit verspürt, wenn er sich auf den Sattel schwingt.
Bei der Selbstversorger-Tour Navad-1000, die er letztes Jahr absolviert hat, kennt er als teilnehmender Mountainbiker allerdings nur Start, Ziel und den 1000 Kilometer langen Weg dazwischen, der vom Bodensee zum Genfersee ohne jegliche fachmännische Unterstützung durch die Schweiz führt.
Die Rede ist nicht von einem klassischen Etappenrennen, sondern von einem beträchtlichen Abenteuer für Sportler, welche die besondere Herausforderung suchen. Weder sind demnach Begleitautos, Mechaniker und Helfer vor Ort, noch existieren Streckenposten oder Beschilderungen. «Weil keine Siegerehrung existiert, kann auch auf die Startgebühren verzichtet werden. Deshalb kann die Navad-1000-Strecke auch nicht als ein Rennen im eigentlichen Sinne betrachtet werden, sondern vielmehr als «Bikepacking-Tour», ergänzt der vierfache Familienvater.
Mit dem Mountainbike Hürden bezwingen lernen
Auf dieser Distanz muss der Radfahrer rund 30 000 Höhenmeter überwinden – eine Expedition ins Unbekannte. Hinzu kommt, dass die für die gesamte Tour benötigte Ausrüstung auf dem eigenen Bike mitgeführt werden muss. Die Strecke von Romanshorn nach Montreux darf überdies nicht länger als 14 Tage in Anspruch nehmen. Obwohl der Wettkampfgedanke bei Weitem nicht im Vordergrund steht, wird es dennoch einen Ersten geben.
Dr. Stoessel zeigt sich durchaus stolz, wenn es ihm wie letztes Jahr gelingt, die Etappe innert acht Tagen und 16 Stunden weitgehend ohne Zwischenfälle zu absolvieren. Ist das Ziel erreicht, lösen sich sämtliche körperliche Beschwerden in Luft auf, und die Bewältigung dieser anspruchsvollen sportlichen Aufgabe lässt den Mediziner innerlich schweben.
Das Patientengespräch muss im Zentrum stehen
Überhaupt steht der 58-jährige Arzt Veränderungen positiv gegenüber: Im Rahmen seines Medizinstudiums wagte er einen Ausflug in die Welt der Luftfahrt als Flight Attendant für Kurzstrecken bei der ehemaligen Swissair. «In dieser Zeit habe ich gelernt, mich auf unterschiedliche Charaktere einzulassen, und diese Wendigkeit kommt mir heute als Gynäkologe oft zugute. In früheren Zeiten pflegte das Flugpersonal zudem einen engeren Kontakt zu den Passagieren, was im aktuellen
hektischen Zeitalter nahezu untergeht », fügt Dr. Stoessel mit einem bedauernden Unterton an.
Diese Entwicklung sei auch im Bereich des Gesundheitswesens zu beobachten, doch trotz Sparmassnahmen und drohendem Globalbudget müsse das direkte Patientengespräch stets im Zentrumstehen. Dr. Stoessel gehört inzwischen zur aussterbenden Berufsgattung, was universell gynäkologisch-geburtshilflich tätige Fachärzte betrifft. «Subspezialisierungen nehmen auch in unserem Spezialgebiet stetig zu. Dieser unaufhaltbare Trend birgt jedoch die Gefahr, dass die Patientinnen nicht mehr ganzheitlich betreut werden können.»
Dr. Stoessel betrachtet es als Privileg, Frauen von der Pubertät bis ins hohe Alter in sämtlichen Lebenslagen begleiten und beraten zu dürfen, was im Grunde mit einer hausärztlichen Tätigkeit vergleichbar sei. Nicht selten spornt er seine Patientinnen an, sportliche Aktivitäten einzuplanen, um ein gesundes Körpergewicht zu halten und das seelische Wohlbefinden zu steigern im Sinne von «Bewegung ist alles, die Richtung entscheidet».
Derweil bereitet sich der Hobbysportler auf die nächste Navad-1000-Tour im kommenden Sommer vor. Bis dahin dürfte er wohl noch ordentlich Schweiss vergiessen.
Nathalie Zeindler