Medical Tribune
19. Sept. 2023Der durchschnittliche Krebspatient wird immer älter

Über 80-jährige mit hämatoonkologischen Erkrankungen behandeln

Der demografische Wandel schreitet fort, und macht auch vor der Hämatoonkologie nicht halt. Hier nimmt die Zahl betagter Patienten stetig zu. Was man über die bestmögliche Therapie im höheren Alter weiss, und wie ein geriatrisches Assessment diese unterstützen kann, wurde am EHA 2023 diskutiert.

Bei Krebs im hohen Alter gelten oft andere Standards für eine Therapie als bei Jüngeren.
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Bei Krebs im hohen Alter gelten oft andere Standards für eine Therapie als bei Jüngeren.

Fünf bis sechs Prozent der EU-Bevölkerung sind es mittlerweile, die aus Menschen besteht, die mindestens 80 Jahre alt sind. Bis 2050 sollen es zehn Prozent werden, stellt Valentin ­Goede, St. Marien-Hospital, Köln, fest (1). Zudem liege der Altersgipfel der meisten hämatologischen Malignome bei deutlich über 70 Jahren. ­

Therapie sollte sich nicht nur nach dem Alter richten

Je älter die Patienten dabei sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie geria­trische Symptome wie Sarkopenie oder Demenz aufweisen. Auch eine bereits bestehende Polymedikation wird in diesem Alter umso wahrscheinlicher. Während einige Scores allerdings Personen ab 80 Jahren grundsätzlich als unfit bewerten, sollte die Therapie von Senioren sich nach dem Gesundheitszustand richten, empfiehlt der Experte

«Ein weiterer Punkt ist, dass Menschen, die älter als 80 sind, in klinischen Studien naturgemäss deutlich unterrepräsentiert sind», kritisiert PD Dr. Goede ausserdem. Bahnbrechende randomisierte kontrollierte Studien mit betagten Erkrankten schlossen nicht genug Personen jenseits der 80 ein, um die Ergebnisse für diese Population zu extrapolieren. Nur wenige Studien beschäftigten sich explizit mit dieser Altergruppe.

Patienten in der neunten Lebensdekade stellen einstweilen auch unter älteren Betroffenen mit hämatologischen Mali­gnomen zudem eine gesonderte Gruppe dar. Bezüglich der Behandlung von Patienten ab 80 Jahren mit ­DLBCL, CLL, AML und MM (s. Kasten) resümiert Dr. ­Goede: «Weniger ist mehr, aber noch weniger ist nicht mehr, sondern zu wenig.»

Geriatrisches Assessment soll Zustand verbessern

Wichtig ist, dass Betroffene im Normalfall heutzutage immer stärker einbezogen werden wollen, betont hingegen Dr. ­Marije M. ­Hamaker vom Diakonessenhuis in Utrecht (2). Neben der Diagnose beeinflusse jedoch auch die gesundheitliche Verfassung die partizipative Entscheidungsfindung.

Sei man sich bezüglich der Vulnerabilität älterer Patienten nicht sicher, komme gegebenenfalls ein geria­trisches Assessment ins Spiel. «In der Onkologie und Hämatologie können wir das geriatrische Assessment nutzen, um den Gesundheitszustand der betroffenen Person zu optimieren. Auch, um die Behandlung anzupassen, kann es verwendet werden», führt sie aus. Die meisten Studien stimmen überein, dass sich dies positiv auf die Rate von Komplikationen und Toxizitäten auswirkt.

Denn passt man etwa die Medikation dem geriatrischen Assessment an, führen die Erkrankten nachweislich die vorgesehene Therapie häufiger zu Ende und auch Parameter wie die Mobilität verbesserten sich. Die Expertin betont jedoch, dass ein geriatrisches Assessment in Studien die Mortalität nicht beeinflusste.

Geriatisches Assessment bietet auch einen Anhaltspunkt für die Zukunftswünsche des Patienten

Führt man ein geriatrisches Assessment durch, bietet dies auch Anhaltspunkte, um über Fitness und Vulnerabilität ins Gespräch zu kommen. In einer Studie fanden im Anschluss an ein geriatrisches Assessment etwa viermal mehr altersbezogene Konversationen statt. Patienten und medizinisches Personal zeigten sich zufriedener mit der Kommunikation. Zudem lag doppelt so häufig eine Patientenverfügung vor und es erfolgte eher ein Austausch über Behandlungsziele am Lebensende.

Man müsse stets berücksichtigen, ob die getroffene Therapie­entscheidung für diese spezielle Person intellektuell, praktisch und emotional Sinn ergebe, so die Referentin. «Zum Leben gehört mehr als Überleben. Wenn du ein Jahr gewinnst, aber dieses Jahr im Pflegeheim verbringst, war das wirklich ein Behandlungserfolg?», gibt Dr. Hamaker zu bedenken. Senioren hätten oft andere Prioritäten als Jüngere. Sie akzeptierten Toxizitäten weniger. Was das Leben lebenswert mache, sei darüber hinaus sehr persönlich. «Es kann bedeutsam sein, nicht nur zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung zu fragen, sondern sich auch im Krankheitsverlauf zu erkundigen: Ist das immer noch, was dir wichtig ist?», fügt die Expertin hinzu hinzu.

Tool hilft bei der partizipativen Entscheidung im Alter

Dr. Hamaker stellte in diesem Kontext auch ein Hilfsmittel vor, das bei heiklen Entscheidungen helfen kann. In dem sogenannten «Outcome Priorisation Tool», können Betroffene auf Skalen gewichten, wie viel ihnen Lebenserwartung, Unabhängigkeit, Symptomlinderung und Minimierung von Nebenwirkungen relativ bedeuten. Patienten sollten dabei aber nicht alle Faktoren auf eine Ebene setzen, rät die Expertin. Das verdeutliche ihnen, dass eine Abwägung zwischen den Therapiezielen getroffen werden muss.

«Partizipative Entscheidungsfindung bedeutet nicht einfach, den Betroffenen zu fragen, was er will. Es ist wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um das Warum zu verstehen, und es dann in eine Behandlungsentscheidung zu übersetzen», fasst die Referentin die Aufgabe der Ärzte zusammen. Man solle niemals Optionen anbieten, die aus klinischer Sicht keinen Sinn ergeben.

Patienten zu ihren Entscheidungen befragen

Dass der Patientenwille möglicherweise auf vergangenen Erfahrungen, Ängs­ten oder Fehlannahmen beruhen könnte, zeigt der Fall einer fitten 81-jährige Patientin mit frühem Brustkrebs. Diese wollte eine OP verweigern. Es stellte sich heraus, dass die Seniorin aus der durchschnittlichen Lebenserwartung ableitete, sie habe nur noch ein Jahr zu leben. Für die Tumor-OP müsse sie zwei Wochen davon im Spital verbringen.

Nachdem die Expertin ihr versicherte, in ihrem Gesundheitszustand könne sie noch 15 Jahre älter werden und man entlasse sie bald nach dem Eingriff, willigte sie ein.

Kognitive Einschränkungen seien im hohen Alter häufiger als meist angenommen und in der Klinik leicht zu übersehen, sagt Dr. Hamaker. Aus ihrer Sicht stellt es einen möglichen Hinweis dar, wenn sich der Angesprochene zur Begleitperson umdreht, statt direkt auf eine Frage zu antworten. Im Zuge der parti­zipativen Entscheidungsfindung müssten Ärzte beurteilen, ob das Gegenüber fähig ist, die Informationen zu verstehen und einzuordnen, logisch zu schlussfolgern sowie eine Entscheidung zu treffen und zu kommunizieren.

Zahlen zur Therapie ab 80

DCBL- Zwei-Jahres-OS mit einer anthrazyklin-­haltigen Chemoimmuntherapie: 48–74 %
- Zwei-Jahres-OS bei Aussparung von Anthrazyklinen: 28–53 %
- medianes OS ohne Therapie: zwei Monate
- reduzierte Dosisintensität von ­R-CHOP nicht eindeutig mit Überlebens-Nachteil verbunden
Follikuläres Lymphom- Menschen ≥ 80 Jahre profitieren hinsichtlich des OS von einer Therapie
CLL- Zwei-Jahres-OS mit Chemoimmuntherapie von etwa 80 %
- keine Daten zu zielgerichteten Wirkstoffen verfügbar
MM- Therapie allgemein mit längerem Überleben assoziiert
- Bortezomib mit Dexamethason verbessert Zwei-Jahres-OS. Prognose hängt stark vom ECOG-Status ab
AML- Real-World-Studie mit 12 00 US-Patienten: nur 41 % erhielten Chemotherapie, darunter 7 von 10 eine Einzelsubstanz; medianes OS 1–2 Monate, mit Therapie tendenziell besser als ohne
- OS unter Azacytidin-Monotherapie besser, beträgt aber weiterhin weniger als ein Jahr
- Venetoclax könnte zusätzlichen Nutzen bringen, aber sehr geringe Fallzahlen in Studien