Konzept der schwelenden MS in die Praxis bringen
Ein neues Konsensus-Statement zielt darauf ab, das Konzept der schwelenden MS in die klinische und wissenschaftliche Praxis einzubinden. Ziel ist es, schleichende pathologische Prozesse bei Multipler Sklerose zu erkennen und zu behandeln, die zu subtilen Verschlechterungen führen.

Das aktuelle Klassifizierungssystem der Multiplen Sklerose (MS) unterscheidet zwischen schubförmig-remittierenden, sekundär progredienten und primär progredienten Verläufen. Es konzentriert sich auf fokale Entzündungen der weissen Substanz, die klinische Schübe auslösen und das Hauptziel krankheitsmodifizierender Therapien (DMTs) darstellen.
Bei vielen MS-Patienten gelingt es, eine Remission ohne Anzeichen entzündlicher Krankheitsaktivität (no evidence of inflammatory disease activity, NEIDA) zu erreichen.
Subtile Progression trotz klinischer Stabilität
Dennoch verschlechtern sich die Beschwerden bei klinisch stabilen Patienten oft schleichend, und die Behinderung nimmt zu. Dies deutet auf einen kontinuierlichen Krankheitsprozess hin, der unabhängig von Schüben im Hintergrund abläuft.
Studien zeigen, dass bereits in der frühen Phase der schubförmig-remittierenden MS eine schubunabhängige Progression (progression independent of relapse activity, PIRA) einsetzt.
Diese Verschlechterungen gehen oft über das bekannte Mass von PIRA hinaus. Neben (fein-)motorischen Einschränkungen treten kognitive Defizite, Fatigue sowie Störungen der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion auf. Viele Patienten berichten über «brain fog» oder verminderte Belastbarkeit, selbst wenn MRT-Bilder und Standardtests wie der EDSS Stabilität suggerieren.
Delphi-Konsens zur schwelenden MS
Vor diesem Hintergrund entstand das Konzept der «schwelenden MS». Ein internationales Expertengremium aus Europa und Nordamerika erarbeitete im Delphi-Konsens Empfehlungen zu Definition, pathophysiologischen Mechanismen, klinischen Manifestationen sowie Implikationen für Praxis, Wissenschaft und Regulierungsbehörden.
«Smouldering-associated worsening» (SAW) beschreibt eine schleichende Symptomverschlechterung durch schwelende pathologische Prozesse, die mit herkömmlichen Diagnosen schwer zu erfassen sind und bisher kein therapeutisches Ziel darstellten.
Multimodale Diagnostik bei subtilen Beschwerden
Während PIRA vor allem mit einer Verschlechterung der motorischen Symptome (obere und untere Extremitäten) einhergeht, kommt es bei SAW zu subtilen Beschwerden wie verminderter Ausdauer und Belastbarkeit, belastungsinduzierten Symptomen, Verschlechterung der kognitiven Funktionen, Fatigue und Nachlassen der Sphinkter-Funktionen.
Um SAW zu erfassen und in weiterer Folge zu überwachen, reichen EDSS und EDSS+ (EDSS plus Nine-Hole-Peg-Test und Timed 25-Foot Walk Test) nicht aus. Vielmehr sind multimodale diagnostische Ansätze erforderlich:
- Bildgebung: Nachweis langsam expandierender Läsionen, paramagnetischer Randläsionen, kortikaler Läsionen sowie PET-Marker der Mikrogliaaktivierung (z. B. TSPO)
- Liquor- und Serum-Biomarker: Neurofilament (NfL), Glial fibrillary acidic protein (GFAP), Chitinase-3-like-1 (CHI3L1) und CXCL13. Kombinationen dieser Marker haben prognostischen Wert für die Behinderungsprogression
- Klinische Marker: EDSS+, kognitive Testungen (Brief International Cognitive Assessment for MS; Symbol Digit Modalities Test), neurologische Stresstests (z. B. Laufband- oder 3D-Ganganalyse), Patient-Reported Outcomes (PROs) und digitale Biomarker (Wearables)
Subtile Verschlechterungen erfordern gezieltere Diagnostik und neue Therapieziele
MS-Patienten, die über eine Verschlechterung ihrer körperlichen und kognitiven Funktionsfähigkeit klagen, für die es in der Routinediagnostik (MRT und EDSS) aber kein entsprechendes Korrelat gibt, sollten eine detailliertere Untersuchung angeboten bekommen. Jedes der sich verschlechternden Symptome und/oder Anzeichen – ob offensichtlich oder subtil – sollte angemessen behandelt werden.
Das SAW-Konzept ermöglicht es Menschen mit MS auch, von nicht-medikamentösen Interventionen (z. B. kognitive Rehabilitation) zu profitieren oder an klinischen Studien zur Behandlung schwelender pathologischer Prozesse teilzunehmen. Dafür müssen allerdings neue Studiendesigns entwickelt und alternative Endpunkte definiert werden.
Schliesslich fordern die Autoren des Konsensus-Statements, dass Regulierungsbehörden SAW als zentrales Krankheitsmerkmal anerkennen. Neues Ziel der therapeutischen Bemühungen sollte nicht nur «No Evidence of Inflammatory Disease Activity» sein, sondern auch «No Evidence of Smouldering Disease Activity».
Scalfari A et al. Smouldering-Associated Worsening in Multiple Sclerosis: An International Consensus Statement on Definition, Biology, Clinical Implications, and Future Directions. Ann Neurol 2024; 96(5): 826–845. doi: 10.1002/ana.27034.
