Medical Tribune
14. Okt. 2025Antiquierte Studienendpunkte erschweren Innovationen

MS: Inflammation künftig hinter Blut-Hirn-Schranke angehen

In der Therapie der Multiplen Sklerose (MS) gelingt es heute, Schübe nahezu vollständig zu unterdrücken. Ungeklärt bleibt jedoch das Problem der schwelenden Entzündung hinter der Blut-Hirn-Schranke, die zur fortschreitenden Behinderung führt. Veraltete Studienendpunkte erschweren die Entwicklung neuer Therapien. Dringend nötig sind Endpunkte, die Behinderungsprogression, Neurodegeneration und die Entzündung hinter der Blut-Hirn-Schranke abbilden.

Astrozyt (Astroglia)
Artur/stock.adobe.com

MS beruht auf zwei Entzündungsformen: einer von aussen nach innen gerichteten (outside-inside inflammation) und einer hinter der Blut-Hirn-Schranke eingeschlossenen Entzündung (inside compartmentalized neuroinflammation).

Beide Prozesse sind in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung unterschiedlich relevant und werden durch unterschiedliche Biomarker charakterisiert. Die Inflammation von aussen treibt die Erkrankung in der Frühphase. Aber auch die «schwelende» Entzündung hinter der Blut-Hirn-Schranke spielt, entgegen früheren Annahmen, auch bereits in den Frühstadien der MS eine Rolle.

«Beide Prozesse laufen bereits, bevor die ersten klinischen Symptome auftreten», erläuterte Prof. Dr. Massimo Filippi von der Universität Vita-Salute San Raffaele in Mailand. Biomarker sollen künftig objektive MS-Diagnosen erlauben, die nicht mehr von klinischen Erscheinungen abhängen, so. Prof. Filippi: «In Zukunft könnten MS-Diagnosen möglich werden, bevor überhaupt Symptome aufgetreten sind. Umgekehrt wären dann keine klinischen Diagnosen ohne entsprechende Biomarker mehr möglich.» Biomarker werden bereits heute für die Abschätzung der Prognose herangezogen und nehmen damit Einfluss auf die Wahl der Therapie (1).

Vorteile für frühe, aggressive Therapie

In der Therapie der MS setzt sich derzeit die Ansicht durch, dass MS generell möglichst früh und möglichst aggressiv behandelt werden sollte, erläutert Prof. Filippi. Dieser Paradigmenwechsel beruht auf mehreren Studien, die nahelegen, dass ein einmal entstandener Nachteil bei später intensivierter Behandlung nicht mehr aufgeholt wird.

Dies betrifft sowohl die zunehmende Behinderung (2) als auch das Risiko einer Progression zur sekundär progredienten MS (3). Prof. Filippi: «Selbst eine Verzögerung einer Therapie mit hoher Intensität um nur zwei Jahre führt zu einem irreparablen Schaden und ungünstigeren Krankheitsverlauf in der Zukunft.» Dies zeigen unter anderem Vergleiche von Registerdaten aus Schweden, wo früh aggressiv therapiert wird, und Dänemark, wo man einen konservativeren Zugang wählt (4).

Prof. Filippi betonte, dass dies auch im Hinblick auf die bei MS häufige kognitive Dysfunktion von Bedeutung ist. Dies, in Verbindung mit motorischen Einschränkungen, führt zu erheblichen Kosten. Der Einsatz hochwirksamer Therapien früh im Krankheitsverlust ist also kosteneffektiv. Hinzu komme, dass dank der zunehmenden Einführung von Biosimilars auch die Biologika-Therapien günstiger werden. Auch durch die zunehmende Umstellung von i.v. auf s.c. Biologika werden die Therapie-Kosten sinken.

BTKi gelangen hinter Blut-Hirn-Schranke

Verbesserungen der Prognose kann man sich auch von den zahlreichen innovativen MS-Medikamenten erwarten, die aktuell in klinischen Studien untersucht werden. An erster Stelle nennt Prof. Filippi die Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTKi). Diese haben theoretisch eine Reihe von Vorzügen. Sie inhibieren unter anderem die Aktivierung und Proliferation von B-Zellen, gelangen durch die Blut-Hirn-Schranke und modifizieren auch im Gehirn die B-Zell-Aktivität und die Mikroglia.

Damit kommen sie einerseits als Exit-Strategie nach längerer Therapie mit Anti-CD20-Antikörpern in Frage, bieten darüber hinaus aber auch die Chance, die schwelende Entzündung hinter der Blut-HirnSchranke zu beeinflussen, was mit den aktuell verfügbaren Therapien bestenfalls sehr eingeschränkt gelingt. Derzeit gibt es klinische Studien zu einer grossen Zahl verschiedener BTKi. In Zukunft könnten BTKI auch mit anderen MS-Therapien kombiniert werden. Prof. Filippi hält dazu fest, dass MS aktuell die einzige Autoimmunerkrankung ist, die ausschliesslich mit Monotherapien behandelt wird.

Neue Endpunkte und Technologien für die progrediente MS

Allerdings stehen die BTKi und alle anderen Kandidaten in der Indikation MS vor einem schwerwiegenden Problem. Der bei der schubförmig verlaufenden MS von den Zulassungsbehörden geforderte Endpunkt annualisierte Schubrate ist praktisch nicht mehr erreichbar, wenn im Vergleichsarm hochwirksame Biologika zum Einsatz kommen.

Prof. Filippi: «Wenn die annualisierte Schubrate null ist, kann man nicht mehr besser werden.» So scheiterte beispielsweise der BTKi Evobrutinib, obwohl die annualisierte Schubrate bei 0,11 lag. Im Vergleichsarm war sie unter Teriflunomid ebenso niedrig. Es werden daher dringend neue Endpunkte benötigt, die auch die Behinderungsprogression, Neuro­degeneration und die Inflammation hinter der Blut-Hirn-Schranke reflektieren. Es werde für keine neue Therapie gelingen, niedrigere Schubraten zu zeigen als einen Schub alle zehn Jahre, so Prof. Filippi.

In der HERCULES-Studie, die in einer Population von Patientinnen und Patienten mit sekundär progredienter MS durchgeführt wurde, gelang es hingegen sehr wohl, mit Tole­brutinib eine Reduktion des primären Endpunkts Behinderungsprogression zu erreichen. Zuvor war es nicht gelungen, eine Überlegenheit von Tolebrutinib gegenüber Teriflunomid im Hinblick auf die annualisierte Schubrate zu zeigen.

Auch ein weiterer Weg, die Entzündung hinter der Blut-Hirn-Schranke zu erreichen, wird aktuell in Studien untersucht: Die Brain Shuttle Technologie. Dabei handelt es sich um aktive Transporter, die Biologika durch die Blut-Hirn-Schranke schleusen sollen. Damit könnte es möglich werden, die heute verfügbaren Therapeutika auch gegen die schwelende Entzündung, die die progrediente MS treibt, einzusetzen.

CAR-T-Zell-Therapien für refraktäre Fälle

Ein neuer Hoffnungsträger ist auch die CAR-T-Zelltherapie, die – aus der Onkologie kommend – zunehmend auch bei verschiedenen Autoimmun­erkrankungen untersucht wird. Die CAR-T-Zelltherapie basiert auf autologen T-Zellen, in die gentechnisch ein chimärer Antigenrezeptor (CAR) eingebaut wurde. Dieser Rezeptor kann sich beispielsweise gegen den Oberflächenmarker CD19 auf B-Zellen richten.

Bindet der CAR an eine B-Zelle, wird diese durch die modifizierte T-Zelle zerstört. Die Folge ist eine tiefe Depletion der B-Zell-Population. Auch andere Ziele für CAR sind möglich. Die CAR-T-Zelltherapie kommt seit mehreren Jahren in der Behandlung verschiedener B-Zell-Tumore erfolgreich zum Einsatz. Der Vorteil gegenüber B-Zell-depletierenden Antikörpern liegt darin, dass CAR-T-Zellen tatsächlich alle Compartements erreichen. Prof. Filippi: «Mit CAR-T-Zellen kann man theoretisch jedes Ziel hinter der Blut-Hirn-Schranke angreifen.»

Zahlreiche Firmen arbeiten aktuell an der Entwicklung kommerzieller Produkte auf Basis dieser Technologie und es bestehen bereits erste Leitlinienempfehlungen in verzweifelten Situationen, also beispielsweise bei refraktärer MS und Kontraindikation gegen eine autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (5).

Zell-Therapie könnte in Zukunft auch in der Behebung bereits entstandener Schäden relevant werden. So berichtet Filipi von einer laufenden Phase-I-Studie an seinem Zentrum, die den Einsatz neuraler Stammzellen zur Remyelinisierung untersucht.Reno Barth