Was hinter einer Ataxie stecken kann
Ataxien können vielfältig aussehen und zahlreiche Ursachen haben – von Schlaganfällen über Alkoholschäden bis hin zu genetischen Erkrankungen. Ein Experte beschreibt die systematische Abklärung und eine neue krankheitsmodifizierende Therapie bei Friedreich-Ataxie.

«Ataxie stammt vom griechischen ‹ataxia›, Unordnung – neurologisch bezeichnet sie die Störung der Bewegungskoordination und Körperhaltung», erklärt Prof. Dr. Hans Jung, Leitender Arzt an der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich (1).
Je nach Ursache beeinträchtigt eine Ataxie dabei Stand und Gang, Extremitäten, Rumpf oder auch die Sprache.
Zerebelläre und nicht zerebelläre Ursachen
Häufig liegt das Problem im Kleinhirn, dem Integrator der Koordination. Je nachdem, welcher Teil betroffen ist, entstehen unterschiedliche Symptome:
- Flokonodulär: Störungen der Blickmotorik, oft kombiniert mit vestibulookulomotorischen Defiziten.
- Spinozerebellär / Lobus anterior: Dysmetrie, Hypometrie, Dysdiadochokinese, Tremor, sowie Stand- und Gangataxie
- Neozerebellär: zusätzliche Tonus-Störungen wie Hypotonie, Hyporeflexie oder Rebound-Phänomen
Neben zerebellären Ursachen können aber auch Afferenzdefizite (sensorische Ataxie) oder Efferenzstörungen (z.B. Paresen) eine Ataxie verursachen.
Ursachenvielfalt: fokal, diffus oder hereditär
Die Abklärung einer Ataxie beginnt klinisch: Wegweisend sind dabei Hinweise auf Afferenz- oder Efferenzdefizite sowie typische zerebelläre Symptome.
Zerebelläre Ursachen lassen sich weiter einteilen in sporadische und hereditäre Pathologien.
Zu den sporadischen Ataxien zählen fokale Pathologien – etwa durch vaskuläre Ursachen (z.B. Schlaganfall, Blutung), Raumforderungen (z.B. Tumor, Abszess, Sarkoidose) oder entzündliche Erkrankungen (z.B. Multiple Sklerose, Vaskulitis).
Daneben gibt es diffuse Ursachen wie toxisch-medikamentöse Schädigung (z.B. Alkohol), Infektionen (z.B. HSV, VZV, Borreliose, Tuberkulose, M. Whipple), autoimmune Hintergründe (z.B. paraneoplastische Zerebellopathie, Diabetes), degenerative Erkrankungen (z.B. Multisystematrophie) sowie metabolische Störungen (z.B. Dysthyreose, Dysparathyreoidose, Vitamin-E-Mangel). Auch paroxysmale Ursachen wie Epilepsie oder Migräne können ataktische Symptome hervorrufen.
Verlauf deutet auf die Genese hin
Der Verlauf liefert oft wertvolle Hinweise:
- Ein akuter Beginn spricht für Schlaganfall oder Blutung
- Ein subakuter Beginn legt eine entzündlich-immunologische Erkrankung nahe, etwa eine MS oder auch eine Raumforderung
- Ein chronischer Verlauf deutet am ehesten auf alkoholbedingte Kleinhirnschäden («ethylische Zerebellopathie»), kann aber auch hereditäre oder sporadisch-degenerative Ursachen haben.
Bei Verdacht auf fokale Pathologien (z.B. Schlaganfall) sollte eine Bildgebung mittels MR durchgeführt werden. Liegen Anzeichen für eine diffuse Pathologie vor (z.B. Stoffwechselstörungen, Vitaminmangel), sind zusätzlich Blut- und Liquoruntersuchungen sinnvoll, bei Verdacht auf hereditäre Ursachen sollte eine molekulargenetische Abklärung erfolgen.
Alkoholbedingte Ataxie
Die ethylische Zerebellopathie ist einer der häufigsten Gründe für eine Ataxie. Klinisch zeigt sich eine primäre Stand- und Gangataxie, die durch eine begleitende alkoholbedingte Polyneuropathie verstärkt werden kann. Im MRI findet sich häufig eine mittellinienbetonte Atrophie, die vor allem den Vermis betrifft.
Die Ursache ist eine Degeneration der Purkinje-Zellen im Kleinhirn infolge chronischen Alkoholüberkonsums. Diese Nervenzellen modulieren und integrieren motorische Efferenzen. Die Symptomatik ist selbst auch bei Abstinenz meist nicht umkehrbar: Einmal zerstört, sind die Purkinje-Zellen nicht wiederherstellbar.
Sporadische Ursachen nicht vorschnell als genetisch einstufen!
Chronisch progrediente Ataxien erwecken leicht den Verdacht auf eine hereditäre Ursache. «Aber nicht jeder schleichende Verlauf ist genetisch bedingt», betont Prof. Jung. Eine wichtige Differenzialdiagnose ist die Multisystematrophie vom olivoponto-zerebellären Typ (MSA-C).
Klinisch ähnelt sie einer hereditären Ataxie mit langsamem Beginn im höheren Erwachsenenalter (meist zwischen 55 und 75 Jahren). Pathologisch handelt es sich jedoch um eine sporadische Synucleinopathie, bei der sich das Protein Synuclein diffus ablagert. Anders als beim Morbus Parkinson entstehen dabei keine Lewy-Körperchen.
Prof. Jung betont ausserdem, dass sich auch funktionelle neurologische Störungen durch Gang- oder Koordinationsstörung äussern können. «Eindeutige klinisch-neurologische Zeichen einer Zerebellopathie fehlen bei diesen Patienten aber, und die Symptome sind üblicherweise modulier- oder ablenkbar.»
Hereditäre Ataxien: Detektivarbeit nötig
Hereditäre Ataxien können in jedem Alter auftreten und dominant, rezessiv, X-chromosomal oder mitochondrial vererbt sein. Eine positive Familienanamnese ist laut Prof. Jung dabei zwar hilfreich, aber keine Voraussetzung.
Sie können in Form einer reinen zerebellären Ataxie auftreten oder mit variablen Zusatzsymptomen einhergehen, wie sensiblen, autonomen, pyramidal-motorischen, extrapyramidal-motorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen.
Dominante Formen, z.B. die spinozerebellären Ataxien (SCA) oder die dentato-pallido-Luysische Atrophie (DPRLA) zeichnen sich meist durch einen Beginn im Erwachsenenalter, sowie einen langsam-progredienten Verlauf aus. Kausale Therapien gibt es bislang keine – in Zukunft könnte die Gentherapie aber eine Rolle spielen.
Rezessive Formen beginnen oft schon früher im Leben. «Dadurch, dass es so viele Unterformen gibt, gestaltet sich die Ursachenforschung oft als Detektivarbeit», berichtet Prof. Jung. Rund 75% der Fälle fallen auf die Friedreich-Ataxie.
Friedreich-Ataxie: häufigste rezessive hereditäre Ataxie
Die Friedreich-Ataxie wurde bereits 1863 beschrieben. Typischer Beginn ist zwischen 10 und 25 Jahren. Klinisch zeigt sich oft nicht eine Kleinhirnstörung sondern eine spinale Pathologie mit sensorischer Ataxie und fehlenden Muskeleigenreflexen, oft kombiniert mit Pyramidenbahnzeichen wie Babinski oder Spastik.
Häufige Zusatzmanifestationen sind Optikusatrophie, sensorineurale Schwerhörigkeit, Skoliose, Kardiopathien, Pes cavus und Diabetes mellitus. Dadurch sind regelmässige kardiologische und diabetologische Kontrollen wichtig.
Eine späte Form, die Late-Onset-Friedreich-Ataxie (LOFA), kann bis ins 7. Lebensjahrzehnt auftreten. Hier dominieren zerebelläre Symptome – systemische Begleitmerkmale fehlen meist.
GAA-Triplett im Frataxin-Gen
Bei der früh beginnenden Friedreich-Ataxie kommt es primär zu einer progressiven Neurodegeneration in den spinalen Hinterstrang- und spino-zerebellären Bahnen im Rückenmark. Auch die Pyramidenbahn und das Kleinhirn können betroffen sein.
Ursache der Friedreich-Ataxie ist eine GAA-Triplet-Expansion im Frataxin-Gen. «Je höher die Repeat-Anzahl, desto früher der Beginn und desto schwerer der Verlauf» erklärt Prof. Jung.
Das defekte Frataxin führt zu mitochondrialer Dysfunktion, Eisenakkumulation und oxidativem Stress. Zudem wird der antientzündliche Transkriptionsfaktor Nrf2 gehemmt.
Erste krankheitsmodifizierende Therapie
Hier setzt der Wirkstoff Omaveloxolon an, mit dem erstmals ein Medikament zur Verfügung steht, das in den Krankheitsmechanismus der Friedreich-Ataxie eingreift. Es aktiviert den Nrf2-Signalweg und verbessert die mitochondriale Funktion.
Die klinische Studie MOXIe zeigte über drei Jahre eine Stabilisierung des Krankheitsverlaufs. Besonders weniger stark betroffene Patienten profitierten. Durch den später behandelten Versuchsarm liess sich zudem ablesen, dass Omaveloxolon nicht nur symptomstabilisierend, sondern auch krankheitsmodifizierend wirkt.
Nebenwirkungen waren selten, und meist gastrointestinal; zudem traten reversible Erhöhungen der Leberwerte auf, weshalb eine Monitorisierung notwendig ist.
Omaveloxolon ist in der Schweiz zugelassen. Die Behandlung darf nur in spezialisierten neuromuskulären Zentren der Myosuisse erfolgen und setzt eine genetisch gesicherte Diagnose sowie einen mFARS-Score zwischen 20 und 80 Punkten voraus. Kommt es nach 6 Monaten nicht zu einer leichten Verbesserung, und danach zu einer Stabilität, muss die Behandlung beendet werden.
Physiotherapie als Add-on
«Bei einer Ataxie sollten zuerst alle Ursachen sorgfältig abgeklärt und behandelt werden», so Prof. Jung. Ergänzend empfiehlt er eine Physiotherapie inklusive Anleitung zum selbständigen Gang-, Gleichgewichts- und Koordinationstraining, bei Bedarf auch eine Ergo- und Logotherapie bzw. periodische stationäre Neurorehabilitationsbehandlungen.
- Jung H Ataxie-Syndrome: Diagnose und Therapie. FomF WebUp Neurologie, 16.9.2025