Medical Tribune
30. Sept. 2025«Frauen sind keine Sonderpopulation»

ESC: Mehr Fokus auf Herzgesundheit bei Frauen

Kardiovaskuläre Erkrankungen sind die führende Todesursache bei Frauen. Trotzdem bleiben sie oft unerkannt, unterbehandelt und unterforscht. Vier Expertinnen beleuchteten am ESC-Jahrekongress die dringendsten Lücken und notwendigen Schritte, um die Versorgung zu verbessern.

Reife ältere Frau verspürt Herzschmerzen und berührt mit beiden Händen ihre Brust.
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«Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind­ nach wie vor die Todesursache Nummer eins bei Frauen – das ist kein Männerleiden», betonte Prof. Dr. Christina Magnussen vom Universitären Herz- und Gefässzentrum Hamburg. Zwar ist die Sterblichkeit durch kardiovaskuläre Erkrankungen insgesamt rückläufig. Frauen – insbesondere im mittleren Lebensalter – profitieren jedoch weniger stark von den Fortschritten als Männer.

Ausserdem bestehen weitere gravierende Defizite: Etwa im Bewusstsein für das Problem, in der Forschung und auch im Zugang zur Versorgung. Ein AHA-Advisory macht dafür unter anderem das Bias der «männlichen Norm» (male default) verantwortlich. Dazu gehört etwa die hartnäckige Vorstellung, dass Herzinfarktsymptome bei Frauen grundsätzlich atypisch seien, was häufig zu verzögerten oder verpassten Diagnosen führt.

SCAD als «typische Frauenerkrankung»

Dass kardiovaskuläre Erkrankungen sogar deutlich weiblich sein können, zeigt das Beispiel der spontanen Koronararteriendissektion (SCAD). Diese betrifft fast ausschliesslich Frauen, und ist für 4 % aller ACS-Fälle und bis zu 25 % aller Myokardinfarkte bei jungen Patienten verantwortlich.

Bislang gibt es mangels SCAD-spezifischer Studien allerdings keine evidenzbasierte Therapie. «Wir wissen schlicht nicht, wie wir diese Patientinnen optimal behandeln sollen», sagte Prof. Magnussen. Erstmals prüft nun die laufende APT-SCAD-Studie den Nutzen einer moderaten Antiplättchentherapie gegenüber einer intensiven Strategie, um die häufigen schwerwiegenden kardialen Ereignisse bei den SCAD-Patientinnen zu reduzieren.

Die Forschung zeigt zudem, dass die Prävention bei Frauen enormes Potenzial bietet. Etwa die Hälfte der kardiovaskulären Krankheitslast lässt sich die fünf klassischen Risikofaktoren – Hypertonie, Dyslipidämie, Diabetes, Adipositas und Rauchen – zurückführen. Dieser Anteil war bei Frauen sogar höher als bei Männern. Am stärksten fiel der systolische Blutdruck ins Gewicht, der allein für rund 30% des Risikos verantwortlich war.

Frauen in Leitlinien: Mehrheit statt Sonderfall

Die Frage, ob es frauenspezifische Leitlinien braucht, stellte Dr. Martha Gulati vom Cedars-Sinai Smidt Heart Institute in Los Angeles. Ihr Fazit: «Frauen sind keine Sonderpopulation, wie sie in Leitlinien oft dargestellt werden – wir sind 51 % der Bevölkerung.»

In aktuellen ESC- und AHA-Leitlinien finden sich geschlechtsspezifische Abschnitte fast ausschliesslich zur Schwangerschaft. «Liest man nur die Highlights, kann es sein, dass dieser Punkt gar nicht vorkommt», kritisierte Dr. Gulati. Bei der AHA/ACC-Leitlinie zu Brustschmerzen 2021 habe man diesen Fehler vermieden: Frauen-spezifische Aspekte wurden nicht unter einer Sonderkategorie versteckt, sondern mitten in der Leitlinie platziert.

Über die Frage spezieller Leitlinien hinaus wies Dr. Gulati darauf hin, dass Frauen aktuell schon bei der Umsetzung bestehender Empfehlungen benachteiligt sind. Medikamente, Rehabilitationsprogramme oder Devices wie CRT und TAVR würden Frauen deutlich seltener verordnet – selbst dort, wo Daten auf bessere Ergebnisse hinweisen wie beim TAVR. «Allein die konsequente Anwendung bestehender Leitlinien bei Frauen könnte Leben retten», betonte sie.

Ob es dann noch geschlechtsspezifische Leitlinien braucht, werde sich erst zeigen. Dafür gebe es derzeit noch zu wenige belastbare Daten– etwa zu Biomarkern, Diagnostik und Therapie. Der Grund dafür liege in der anhaltenden Unterrepräsentierung von Frauen in klinischen Studien. «Dadurch sehen wir Unterschiede nicht gleich, sondern erst viel später», kritisiert die Referentin.

Warum Frauen in klinischen Studien oft fehlen

Genau hier setzt der Vortrag von Prof. Dr. Barbara Casadei vom National Heart and Lung Institute in London an. «Die klinische Forschung war lange auf junge weisse Männer zugeschnitten – Frauen, Ältere und People of Colour sind darin deutlich unterrepräsentiert», erklärte sie.
Das betrifft auch gerade die kardiovaskuläre Forschung.

Einer der Hintergründe ist, dass Studienbetreiber hier besonders ungern ältere und multimorbide Patientinnen rekrutieren, obwohl gerade diese Gruppen besonders relevant wären. Das mittlere Alter der Teilnehmenden in Herzinsuffizienz-Studien lag daher jahrzehntelang rund 20 % unter dem realen Durchschnitt, der Frauenanteil rund 30 % darunter. Hintergrund ist das tendenziell höhere Alter von Frauen mit Herzinsuffizienz. «Studien, bei denen es keine maximale Altersschwelle für Probanden gab, hatten automatisch einen höheren Frauenanteil», so Prof. Casadei.

Ein Vergleich zweier grosser Präventionsstudien aus Oxford verdeutlicht die Problematik zudem noch weiter. Obwohl die Rekrutierungszeiträume weit auseinanderlagen (1994–1997 vs. 2011–2013), zeigt sich in beiden Untersuchungen ein konsistentes Muster: In sämtlichen Phasen lag der Frauenanteil stets deutlich unter dem der Männer.

Frauen nehmen in Studien zudem seltener an Präsenz-Follow-ups teil und brechen diese häufiger ab – unabhängig, ob sie sich in der Verum- oder Placebogruppe befinden. Die Referentin vermutet die Teilnahmehindernisse bei Faktoren wie familiären Verpflichtungen sowie geringer Bereitschaft für Präsenzbesuche. Vollständig remote durchgeführte Studien wie AMALFI hätten den Frauenanteil immerhin leicht erhöht.

Falsche Sicherheit, fatale Therapie-Lücken

Zudem werde das kardiovaskuläre Risiko von Frauen in der Kommunikation oft verzerrt dargestellt, kritisierte Prof. Casadei. Die gängigen Risikoscores vermitteln in der Primärprävention den Eindruck, dass Frauen sich bis 60 fast alles leisten können – das wiegt sie in falscher Sicherheit», erklärte sie. «Sieht man sich die Überlebenskurven ab einem Alter von 40 Jahren an, kann man diese Botschaft richtigstellen. Man kann so etwa kommunizieren, dass eine 40-jährige mit kardiovaskulären Risikofaktoren eine 68%ige Chance hat, kardiovaskulären Tod bis zum Alter von 80 Jahren zu vermeiden. Ohne Risikofaktoren steigt die Chance sogar auf 87 % – das ergibt einen Unterschied von 8 Jahren im medianen Überleben zwischen Frauen mit hohem und niedrigem Risiko.

Zugleich warnte Prof. Casadei davor, sich zu stark auf reale oder vermutete Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu konzentrieren. Ein Beispiel ist die Statintherapie: In Metaanalysen erreichten die Mortalitätsdaten keine statistische Signifikanz, obwohl die Effektgrösse identisch mit der der Männer war. «Das hat dazu geführt, dass Frauen nach einem STEMI seltener Statine verordnet bekommen.»

«Ich musste kämpfen, um ernst genommen zu werden»

Zum Abschluss schilderte Rajni Malhotra aus Zürich vom ESC Patient Forum ihre persönliche Erfahrung: Von ersten Symptomen über verzögerte Diagnostik bis zu Stent-Implantation vergingen Jahre, in denen ihre Beschwerden meist abgetan wurden. «Ich musste kämpfen, um überhaupt ernst genommen zu werden», berichtete sie. Ihre Botschaft: Frauen sollten ihre Symptome nicht bagatellisieren, sondern aktiv auf Abklärungen bestehen. Ärzte sollten wiederum Beschwerden von Frauen nicht vorschnell als psychisch bedingt abtun.